Nichts, Narziss und wieder nichts

Bühne Das Festival "Radikal jung" am Münchner Volkstheater geht ins neunte Jahr. Vor allem Milo Rau und Malte C. Lachmann überzeugten

Radikal jung am Münchner Volkstheater, das ist zuerst einmal ein Markenname. Die dreiköpfige Auswahljury weiß das selbst am besten. In diesem neunten, durchaus starken, Jahr ist sie jedenfalls der wiederkehrenden Fragen müde, was an dieser oder jener Inszenierung denn nun „radikal“ sei oder jugendlich. Vielleicht kommt man mit folgender Arbeitsdefinition weiter, die freilich auch keinen erst jüngst zu beobachtenden Paradigmenwechsel formuliert: Radikal ist eine Inszenierung, die den klassischen Mechanismen von Identifikation und Repräsentation nicht vertraut.

Und besonders beeindruckend waren tatsächlich die Stücke, Uraufführungen zumeist, die das Individuum verschwinden ließen hinter dem Schutt der Ideologie und der Leinwand gesellschaftlicher Projektion. Breiviks Erklärung etwa, konzipiert von Milo Rau, zitierte das aus Furcht, Phrasen und daher gebogenen Zitaten und Statistiken bestehende Gedankengebäude nach, das der norwegische Attentäter vor Gericht zum Besten gegeben hatte. Das historisch durchaus vorbelastete Münchner Haus der Kunst hatte sich geweigert, die Lesung wie geplant in seinen Räumlichkeiten stattfinden zu lassen, was dem Festival ein kleines Skandälchen einbrachte, das dem Markenimage sicherlich nicht geschadet hat. Dabei zeigte sich doch hinter dem Geschwafel und Geschwätz vor allem eines: eine furchtbare Leere.

Ähnlich Malte C. Lachmanns Die Protokolle von Toulouse. Ursprünglich in Hamburg hat Lachmann eine andere Aufzeichnung auf die Bühne gebracht: die Verhandlungen zwischen einem muslimischen französischen Polizisten und Mohamed Merah, der 2012 in Südfrankreich Soldaten und Kinder und Lehrer vor einer jüdischen Grundschule erschoss. Die beiden sprechen über den Islam, sie sprechen mit befremdlicher Lockerheit, über die Schießerei von gerade eben, über Mord und über Mohameds nasse Füße. Doch hinter alle dem: wieder nichts. Ein Fanatiker, ausgefüllt von seinem Fanatismus, und die Verkörperung der strukturellen institutionalisierten Gewalt, beides notdürftig überdeckt durch kumpelhafte Gesten, durch eine Sinnlichkeit, die der echte Dialog über Walkie-Talkie nie gehabt haben konnte.

Überhaupt, die Sinnlichkeit, der Rausch der Bewegung: Shall We Dance – keine Frage ist das, sondern ein Appell, den Yoav Bartel vom Home Made Ensemble Tel Aviv an das Publikum, seine Kursgruppe richtet. Er spielt Eitan Harrari, einen eitlen Gockel, Narziss, Tanzlehrer, und einige Glücklich-Unglückliche dürfen in der Aufführung seine Choreografien nachstellen. Sie versinnbildlichen Episoden aus Harraris Leben, die erst von Liebe erzählen, dann von Misshandlung, während dem Kursleiter allmählich seine Maske herunterrutscht und eine vom Versagen gequälte, mörderische Existenz darunter hervorlugt. Erfahrung wird in Körperlichkeit verwandelt, eigentlich eine Steilvorlage fürs Theater. Aber dass es da etwas zu enthüllen gebe, dass der Abend einer schleichenden Freilegung des Persönlichkeitskerns gewidmet ist – das wäre nun fast schon wieder anti-radikal. Jedenfalls, wenn sich nicht ständig die Vermutung einschliche, dass die Qual und der Zorn dieses Menschen auch Ausdruck einer Kollektivneurose sein könnten.

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