Nichts wie immer

Berliner Abende Von Ehemaligen und Eingesessenen. Oder wie sich der Arbeitsalltag einer Redakteurin von Ost nach West verändert hat
Ausgabe 45/2015

In einer Redaktionsstube im Ostberliner Stadtbezirk Mitte saßen viele Jahre lang zwei Redakteurinnen an ihren Schreibtischen. Aus den Fenstern konnten sie das Gebäude des ZK der SED sehen, das Außenministerium und den Palast der Republik. Mitunter kam es vor, dass aus Richtung Unter den Linden das Geheul von Polizeisirenen zu hören war. Minutenlang, ein Auto jagte das andere, und nach kurzen Pausen kamen wieder neue. Dann sahen sich die Redakteurinnen jedesmal an und eine sagte: „Ich denke immer, an der Mauer ist was passiert.“

Plötzlich, in der Nacht vom 9. zum 10. November, war wirklich was passiert. Am nächsten Tag machte die eine der beiden, nach 23 Berufsjahren, ihre erste, allerdings selbstgenehmigte Dienstreise in den Westen. Zwischen Gewissensbissen und eingeredeter Chronistenpflicht hatte die Neugier gesiegt: Durch die geöffnete Grenze ging sie nach Westberlin und beobachtete dabei sich und ihre Landsleute. Pflichtgemäß schrieb sie eine Reportage, die wurde in der Zeitung gedruckt.

Der DDR-Verlag, der die Reportage anschließend in einen Sammelband übernahm, ist inzwischen so arm geworden, dass er seinen Autoren keine Belegexemplare mehr schicken kann. Nur ein verzweifelt netter Brief des ehemaligen Lektors teilte mit, das Bändchen sei soeben im Buchhandel erschienen.

So ehemalig wie der Lektor ist heute vieles. Die Redakteurin muss sich daran gewöhnen, dass sie eine ehemalige Redakteurin einer ehemaligen Zeitung der ehemaligen DDR ist. EHEMALIG ist zur Zeit das beliebteste Epitheton der anderen Seite. Es bringt den Ehemaligen täglich in Erinnerung, dass nun alles vorbei ist, es assoziiert Gefängnis und Entlassenwerden, Schuld und Sühne. Von EHEMALIGEN wird erwartet, dass sie ein neues Leben anfangen, als neue Menschen quasi.

Die Redakteurin fährt nun jeden Tag in den Westen zur Arbeit. Ihre Zeitung fusionierte mit einer Westberliner. Zusammen gründeten sie ein neues Blatt. Die Ostredakteure zogen mit ihren Schreibtischen und Papierkörben in Westberlin ein. Die Redakteurin hätte gerne auch das alte Sofa aus ihrem Ostberliner Arbeitszimmer mitgenommen, doch das hätte in den neuen Räumen keinen Platz gefunden. Ohnehin hatte sie von einem Kollegen eines gutbürgerlichen Blattes gehört, in renommierten Institutionen des Westens dürfe ein Sofa nur haben, wer sich schon in die weicheren Gefilde der Hierarchie hochgedient habe. Auch die Größe der Schreibtische und der Fenster bemesse sich nach diesem Prinzip.

So ist es gottlob in der Redaktion nicht. Hier rückten alle zusammen, um den Neuen Platz zu machen. Was nicht heißt, dass sie sich nicht auseinandersetzen. „Ihr müsst immer alles diskutieren. Könnt ihr nicht einfach miteinander reden?“, fragen die Ehemaligen die Alteingesessenen. „Ihr redet alle durcheinander. Könnt ihr nicht ordentlich diskutieren?“, fragen die zurück.

Von Kreuzberg hat die Redakteurin noch nicht viel mitgekriegt. Nur dass die Straßen voller Hundedreck sind und alle sich duzen. „Hier ist deine Paella“, sagt in der Imbissstube das Mädchen, das ihre Tochter sein könnte. „Hast du mal ein paar Groschen für mich?" bettelt der Junge an der Straßenecke. Die Redakteurin zieht den Kopf ein und kauft beim Türken ein Fladenbrot für den Abend. Müde schleicht sie zur U-Bahn und wundert sich, wie alles so schnell gekommen ist. Als wären neunundzwanzig Jahre nichts gewesen, unterquert die U-Bahn auf ihrem Weg von West nach West den Osten und hält am Alexanderplatz.

Beim Umsteigen kauft sich die Redakteurin eine Abendzeitung/Ost. Die ist so schön dünn. Da ist zu lesen, die 30 Meter hohe Tanne für den Weihnachtsmarkt sei auf dem Weg in die Stadt. Endlich nichts Neues, endlich nichts Ehemaliges, endlich Aussicht auf etwas, was sein wird wie immer: Man wird auf dem Sofa sitzen, die Kerzen brennen am Baum, die Glocken lauten, und die Engel singen – „Alle Jahre wieder...“

Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag

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