Die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mithu Sanyal ist bekannt für Sachbücher zu politisch aufgeladenen Themen. Ihr erster Roman befasst sich nun mit der Frage, was es heißt, mixed-race zu sein. Im Mittelpunkt steht eine polnisch-indische Studentin, deren Mentorin sich eine falsche Identität gibt. Identitti diskutiert Fragen von Herkunft und Identität, gibt BIPoCs in der deutschen Literatur eine Stimme. BIPoC steht für Black, Indigenous and People of Color oder – mit Sanyals Heldin gesagt – für „Menschen, die gefragt werden: Wo kommst du her?“
der Freitag: Antwortet man auf die Frage nach der Herkunft überhaupt noch, Frau Sanyal?
Mithu Sanyal: Ich bin über die Jahre relativ milde oder mürbe geworden. Aber manchmal frage ich erst einmal zurück. Wirklich schwierig ist tatsächlich, dass die Leute in meinen netten, woken, linken Kreisen ganz lange gelernt haben, dass man so etwas um keinen Preis fragt. Während die dann lustig darüber reden, wo ihre Eltern herkommen und was es für sie bedeutet, wird das bei mir vorsichtig ausgespart. Ich könnte dann mit meiner polnischen Mutter anfangen. Aber das will keiner wissen.
Als Autorin greifen Sie zu aufgeladenen Themen: weibliche Sexualität, Vergewaltigung und nun ein Roman über Rassismus.
In meinem Roman geht es gar nicht so sehr um Rassismus, sondern um being mixed-race. Das war tatsächlich ein Thema, zu dem ich als Kind wenig lesen konnte. Als ich in den 90er Jahren endlich etwas dazu fand, waren es Bücher aus England oder Amerika. Mir fehlte einfach deutsche Literatur, die von Menschen wie mir handelt. Das war bei dem Vulva-Buch genauso. Als Schülerin bin ich in die Stadtbücherei gegangen und fragte nach so einem Buch. Was ich bekam, war ein Sachbuch über „die Vagina und ihre zahlreichen Erkrankungen“. Deshalb ist auch Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts ein Buch geworden, das ich selbst lesen wollte.
Im Vorwort Ihres Buches „Vergewaltigung“ sagen Sie, weil „die Schere im Kopf so scharf und die Knoten im Gehirn so festgezurrt“ waren, sei es besonders schwergefallen.
Mir ging es um zwei Aspekte: Ich wollte zum einen nicht über Opfer schreiben, als wären sie für immer zerbrochen, sondern auch über Heilung reden können, und zum anderen wollte ich hinterfragen, warum wir immer nur von weiblichen Opfern und männlichen Tätern reden. Das hat damals viele wunde Punkte berührt. Ich hatte wirklich Angst, nach dem Buch aus dem feministischen Kreis exkommuniziert zu werden. Das ist natürlich nicht passiert. Feminismus ist ja kein Kult, sondern es geht ja darum, dass wir unser Wissen hinterfragen und wachsen können.
Zur Person
Mithu Sanyal, Jahrgang 1971, wurde als Tochter einer Polin und eines indischen Vaters in Düsseldorf geboren. Die promovierte Kulturwissenschaftlerin hat Sachbücher zum weiblichen Geschlecht und zum Thema Vergewaltigung geschrieben. Sie ist u.a. auch für den WDR und den Guardian als Autorin tätig
Wie kam es zum ersten Roman?
Ich wollte immer Romane schreiben. Vor mehr als 20 Jahren habe ich eine schöne Kurzgeschichte in einem Sammelband veröffentlicht. Es ging damals schon um eine Freundschaft zwischen zwei mixed-race Frauen. Die Handlung war natürlich anders, aber das Kernthema war schon da. Ich schrieb um die 100 Seiten, mit denen meine Agentin zu den Verlagen ging. Die haben nach dem Motto reagiert: Wir haben doch schon eine Inderin in unserem Programm. Oder: Wir haben schon eine Türkin, noch eine Migrationsgeschichte brauchen wir nicht.
Das ändert sich gerade. BIPoC-Autor:innen wie Olivia Wenzel oder Hengameh Yaghoobifarah schreiben über ihre Wirklichkeit. Hat Sie das bestärkt?
Absolut. Mir hat auch geholfen, dass es so etwas wie eine Familie, eine Community aus Büchern gibt. Mein Roman erscheint gewissermaßen in einem Gespräch, das über verschiedene Bücher hinweg geführt wird.
Ihre Hauptfigur teilt einige biografische Merkmale mit Ihnen. Befürchten Sie, dass „Identitti“ als Ihre Geschichte gelesen wird?
Mir war es wichtig, dass es Menschen wie mich in der Literatur gibt. Deshalb habe ich Nivedita mit dieser Familiengeschichte angelegt. Nivedita und ich teilen die Herkunftsländer unserer Eltern, dadurch ist der Roman aber noch lange nicht autobiografisch. Sie ist viel jünger als ich, ihre Form der Auseinandersetzung mit Race ist ganz anders. Das Wissen um Rassismus in Deutschland ist in den vergangenen Jahren ja exponentiell gewachsen.
Im Roman nimmt Niveditas Mentorin Saraswati eine PoC-Identität an und baut darauf ihre akademische Karriere auf. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah sagt, seine Identität kann man sich nicht aussuchen. Wie sehen Sie das?
Ich habe Saraswati als Figur ausgewählt, weil sie eine durchaus schwierige Position vertritt. Ich hatte mich am US-amerikanischen Rachel-Dolezal-Fall sehr abgearbeitet. Da ging es auch darum, dass eine Weiße sagt, sie identifiziert sich als Schwarze. Ich denke, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse anders wären, hätten wir alle deutlich mehr Spielraum. Da Macht so funktioniert, wie sie nun einmal funktioniert, ist es viel schwieriger. Aber eigentlich ist Race viel konstruierter als Gender. Womit ich nicht sagen will, Gender sei natürlich. Aber Race ist eben ein komplettes Konstrukt.
Also doch freie Wahl?
Sobald die möglich wäre, würde sich die Bedeutung von Race auflösen. Da sind wir aber noch lange nicht. Ich persönlich war immer im Dilemma, ein Identitätsvakuum zu empfinden. Ich war nie indisch genug, um Inderin zu sein. Ich war nie polnisch genug, um Polin zu sein. Und deutsch genug war ich auch nie.
Wie würden Sie denn dann Ihre Identität beschrieben?
Tatsächlich irgendwie transkulturell, auch wenn man das wegen trans nur schwer sagen kann und kulturell ist auch Quatsch. Ich habe vor Kurzem einen Essay von Virginia Woolf wieder gelesen. Vor Jahren habe ich dazu eine Notiz geschrieben. Und da steht, wir Ausländer. Das ist verrückt, denn ich bin in Deutschland geboren. Aber Ausländer war Anfang der Neunziger das einzige Wort für Menschen wie mich. Dann gab es kurz das Wort bikulturell, was ein bisschen geholfen hat, dann kam multikulturell, was sofort nach Straßenfest und buntem Essen klang. Deshalb bin ich bei einem Wort wie transkulturell geendet.
Ihr Roman spielt mit der Idee, trans auch auf Race oder Hautfarbe anzuwenden. Waren Sie beim Schreiben selbst erstaunt von den Debatten Ihrer Figuren?
Es ist ja nicht so, dass mir eine göttliche Stimme einflüstert, was ich schreibe, sondern in den Auseinandersetzungen steckt viel Recherche, insbesondere in Saraswati. An der Figur scheiden sich die Geister. Ich erkenne auch vieles aus meinem eigenen Leben wieder. Ich habe ja selbst oft das Gefühl, dass, egal, was ich sage, eine Lüge ist. Selbst wenn ich als die spreche, als die ich gelesen werde, empfinde ich das als Anmaßung. Darf ich PoC sein? Mit den Debatten um Cultural Appropriation geht es mir ähnlich. Ich finde sie sehr produktiv, weil sie viele Dinge sichtbar machen, aber wenn wir ehrlich sind, ist jedes Schreiben Cultural Appropriation. Oder ich kann nur noch mein Tagebuch veröffentlichen.
Saraswati wird Aneignung und Blackfacing vorgeworfen. Sie selbst findet diese Vorwürfe rassistisch. Hätten Juli Zeh oder Daniel Kehlmann einen Roman mit so einer anmaßenden weißen Figur schreiben können?
Im Moment wäre das tatsächlich schwierig. Natürlich! Der Gedanke, dass die Leute, die einen Roman schreiben, nicht mitgelesen werden als die Person, die sie sind, ist eine Lüge. Wir tun immer so, als stünde das Kunstwerk für sich. Das war noch nie so. Schon Emily Bronté hat mit gutem Grund unter männlichem Pseudonym geschrieben. Natürlich haben wir Fantasien über die Menschen, die diese Bücher schreiben. Und in dem Fall wird deutlich sichtbar, dass wir auch bei weißen Menschen Fantasien darüber haben. Das verblüfft uns nur so, weil die vorher unsichtbar, die Norm waren.
Der Roman wirft Fragen zur Diskussionskultur auf. Auch im akademischen Milieu ufert die Empörung zum Shitstorm aus.
Es wird von Saraswatis Student:innen ja als Politikum wahrgenommen, dass sie als Professorin für Postcolonial Studies mit Race spielt. Sie hat nicht über den Beruf ihrer Eltern gelogen, sondern über den Kern dessen, was sie unterrichtet. Aber es sind nicht nur die Studierenden. Die ganzen Rechten, die sowieso alles verbieten wollen, was auf Studies endet, springen auf die Empörung auf. Es gibt eine Kraft von außen, die skandalisiert, und einen inneren Kreis, der sich betrogen fühlt.
Im Roman verwenden Sie Tweets von Menschen aus Kultur und Medien. Wie kam es dazu?
Diese Beteiligung ist entstanden, weil ich ein paar Leute gefragt habe: „Sag mal, wie würdest du reagieren, wenn …?“ Beim Schreiben fragte ich mich, ob diese Geschichte in Deutschland überhaupt so funktionieren würde. Die Antworten durfte ich dann verwenden. Im Nachhinein bin ich total glücklich darüber, weil alle Tweets und Posts stilistisch und inhaltlich anders sind, als ich das geschrieben hätte.
Als Sie den Roman schrieben, gab es den rassistischen Mordanschlag in Hanau. Wie hat sich das auf den Roman ausgewirkt?
In meiner Auseinandersetzung mit dem Thema fand ich es immer unglaublich, dass Solingen und all die anderen Anschläge thematisch in der deutschen Literatur nie vorkamen. Ich habe sicherlich nicht alle Romane gelesen, aber ich habe es nicht gefunden. Das trifft auch für unsere Perspektiven auf die Geschichte zu. Das zu ändern, war immer eine große Motivation für mich. So etwas wie Hanau erdet eine solche Geschichte, denn plötzlich stellen sich Fragen ganz anders. Es gab bei mir auch die Angst, Hanau auf eine Hintergrundkulisse zu reduzieren. Ich habe mich schließlich dafür entschieden, dass Hanau in mein Buch hineinmuss, auch weil ich mich persönlich durch diesen Anschlag bedroht fühle.
In welchem Genre wollen sie „Identitti“ wiederfinden?
Ich denke, es ist ein Heimatroman.
Info
Identitti Mithu M. Sanyal Hanser 2021, 432 S., 22 €
Kommentare 15
Das Problem ist: Lernt man sich kennen, fragt man sich früher oder später auch, was man so getrieben hat und wo eben man herkommt. Die im Interview umrissene Gemengelage und auch der (wieder mal) extensiv zur Anwendung gebrachte »Fachjargon« ermutigen hierzu nicht nur nicht. Der Interviewtext stellt ja explizit in den Raum, dass – egal, wie man sich verhält – alles nur falsch sein kann.
Ungeachtet meiner Ansicht, dass Identitätspolitik zwischenzeitlich etwas stark Sektenhaftes hat (und in realitas mehr mit sozialem Distinktionsgewinn und Klassendünkel zu tun hat als dem Kampf gegen tatsächliche Diskriminierungen), habe ich durch das Interview neue Erkenntnisse gewonnen: Die Sucht, stetig neue Schubladen zu erfinden mitsamt stetig veränderter kryptischer Insider-Begrifflichkeiten, führt nicht nur dazu, sich den lieben langen Tag im selbstgeschaffenen Gedankengebäude zu bewegen, sondern gleicht sich mehr und mehr der typisch deutschen Neigung an, für alle Vorgänge im Leben irgendeine Regel zu zimmern und mittels dieser das nähere und weitere Umfeld zu terrorisieren.
Insofern hat dies auch nichts mit »links« zu tun wie im Text ausgegeben – auch wenn die identitätspolitisch ausgerichtete »Hillary-Clinton-Linke« die Reste der (echten, sozial orientierten) Linken zwischenzeitlich übernommen und sozusagen in Geiselhaft genommen haben.
Machen kann man da nichts. Im Zweifelsfall empfehle ich für einschlägige Situationen: in Gedanken mitzählen, wie oft Begriffe wie »woke«, »(BI)PoC« und ähnliche à Minute fallen und situativ abhängig den Rückzug anzutreten.
Eigentlich ja, Zustimmung. Dieses Interview finde ich aber doch etwas anders.
"Der Interviewtext stellt ja explizit in den Raum, dass – egal, wie man sich verhält – alles nur falsch sein kann."
Die Antwort Frau Sanyals auf die erste Frage des Interviews problematisiert das doch gerade.
Als Erziehungsroman im Geiste von Willhelm Busch würde ich dieses Buch beschreiben. Einfach andersrum. Auflage vielleicht 1000 Exemplare. Oder 2000. Ich frage mich gerade in meiner neuen Wahlheimat, als einziger Weisser weit und breit, nota bene, wie das ankäme, wenn ich so daher reden würde. Meine Situation steht ja sozusagen spiegelbildlich zu derjenigen der Autorin. Jeden Tag werde ich z. B. danach gefragt, woher ich komme. Noch kann ich damit gut schlafen. Vielleicht gibt es hier ja „woke“ Auswanderer aus dem Wilden Westen, wer weiss. So einen frage ich mal. Man muss die wirklich wichtigen Probleme unserer Zeit schliesslich ansprechen!
"... und in realitas mehr mit sozialem Distinktionsgewinn und Klassendünkel zu tun hat als dem Kampf gegen tatsächliche Diskriminierungen (...)"Was sie da in Klammern schreiben ist meines Erachtens und nach meiner Erfahrung aber überhaupt das grundlegende Problem der Identitätspolitik. Hinzu kommen sicher noch eine nahezu totale Abwesenheit sozialer oder klassenorientierter Überlegungen, eine Ferne zu marxistischen Theorien, die Abwertung der als Unterschicht diskrimminierten ökonomischen Prekariats und ein beinahe schon aggressives Bewusstsein, es selbst irgendwie nach Oben zu schaffen - koste es, was es wollte. Also ein faktisches Aufgehen im Neoliberalismus.
Der Soziologe Wolfgang Engler spricht dieses Problem zwar nicht direkt an. Trotzdem finde ich ihn sehr lesenswert.
»Die Antwort Frau Sanyals auf die erste Frage des Interviews problematisiert das doch gerade.«
Als »was anderes« würde ich das Interview eher aus dem Grund bewerten, weil Frau Sanyal durchaus mit einer Handvoll solider Publikationen aufwartet und auch ihr Roman von einer Sorte zu sein scheint, der (wohlwollendes) Interesse durchaus verdient.
Im Interview selbst flirren die einschlägigen Begrifflichkeiten – wie immer in der üblichen Nichtkonsistenz: Mal wird von »PoC« geredet (aktuell anscheinend Eichstandard), mal von »BIPoC« (eine meiner Meinung nach äußerst problematische Abkürzungs-Kreation, angesichts der vermutlich nicht wenige der unter »Indigen« Subsummierten Feuer spucken werden). Ansonsten: Meiner Meinung nach ist die Antwort auf die erste Frage eher ein Beleg für meine These, dass sich Befragte und Interviewpartner da munter in eine (teils am selbstgeschaffenen Reißbretttisch entworfene) Problemkonstellation hineinimaginieren, wo man es nicht recht machen kann – egal, wie man es macht.
Den reellen Anlass – die in besagte W-Frage gekleidete Übergriffigkeit vieler Geburtsdeutscher – kann ich dabei sehr gut nachvollziehen. Nur gibt es dafür – anders als die Identitätspolitischen meinen – keine Lösung nach irgendeinem Schema F. Anders gesagt: Mit (noch) mehr Regeln und Do’s und Don’ts lässt sich die Situation allenfalls verschlimmbessern. Das Begriffsbesteck aus den einschlägigen Studies, dass im Interview geradezu extensiv zur Anwendung kommt, lässt mich da leider vermuten, dass Frau Sanyal der Ansicht ist, dass sich das Problem auf der Regel-Ebene (respektive durch einen noch ausgefeilteren Umgangs-»Knigge«) in den Griff kriegen ließe. – Womit wir bei den sektenhaften Interaktionsformen wären, die ebenjenes vorzugsweise akademisches Milieu nach außen transportiert.
Sicher – es gibt schlimmere und akutere Problemlagen. Allerdings ist das Grundrauschen, dass von ebenjenem Milieu fabriziert wird, durchaus so vernehmbar, dass es meines Erachtens falsch wäre, es einfach mit Schweigen zu übergehen – abgesehen von dem Umstand, dass entsprechende Auseinandersetzungen auch medial zwischenzeitlich fast im Monatsturnus stattfinden.
Warum die vielen Anglizismen ? Die betonen die Abgehobenheit.
Mithu Sanyal gehört für mich seit einigen Jahren zu den wenigen Lichtblicken im Kontext von Identitätspolitik und den damit zusammenhängenden -ismen.
Ihre Art zu schreiben jenseits von Denk- und sonstigen Schablonen, erzeugt eine Gegenkraft gegen die vielen Vereinfacher, Pauschalisierer, die in der Enge ihrer eigenen Blase gefangen sind. Und deren Themen auf Revierbehauptung begrenzt sind.
Was das Interview angeht, habe ich die Frage nach dem Titel vermisst. Männliche Befangenheit?
Irgendwas mit Identität und Frauen und Sexismus in einem Kunstwort.
Das persönliche Leid, das die Interviewte erfährt, ist real und gewiss beklagenswert und ist es wert, in Bezug auf die strukturellen Ursachen untersucht zu werden, wenngleich ihr Leid keine Ausnahme, sondern in meinen Augen der Regelfall ist, wobei es gewiss unterschiedliche Schweregerade gibt, auch wenn es unmöglich ist zu beurteilen, was das Leid eines anderen tatsächlich für diesen bedeutet.
Allerdings halte ich die Art, sich sozialen Fragen identitätspolitisch zu nähren, für den zentralen Südenfall linker Politik.
Offensichtlich hat das neoliberale Denken dazu geführt, dass soziale Fragen auch im linken Spekturm oft ganz systemkonform, vielfach nur noch in Kategorien der Konkurrenz und Abgrenzung betrachtet werden können. Identitätspolitik ist diesebezüglich dann einfach die Krone der Entwicklung und in diesem Zusammenhang der perfekte Hybrid aus sozialer Fassade (ein unhaltbares, glänzendes Werbeversprechen) und gnadenlosem Selbstinteresse und konterkariert so, das eigentliche Anliegen linker Politik, über Solidarität das Leid für möglichst viele zu vermindern, außer diese würde darin bestehen, dies über Eigenoptimierung zu erreichen.
Nicht, dass wir nicht alle der Mittelpunkt unserer eigenen Welt sind, aber in der ausdrücklichen Identitätspolitik wird im Sinne des Neoliberalismus daraus eine gezielte Ideologie der Überlegenheit aus vermeintlicher Unterlegenheit (ein Wettbewerbsvorteil), oft ohne Maß und mit Annextionsinteresse und sei es nur ideologisch. Und am Ende ist es lediglich eine Strategie der Verdrängung und damit eine Fortsetzung des im Neoliberlismus zum Ausdruck kommenden Kults des kleinen Egos, das sich nicht in der Welt erkennt und immer schreit, ich, ich, ich, meins, meins, meins.
Statt Motivation aus Gemeinsamkeit zu gewinnen, herrscht eine geradezu systemische Blindheit für das Leid der anderen vor. Wobei die Anhänger der Identitätspolitik hier genauso Opfer der Umstände eines mitgefühlslosen Systems sind, wie zum Beispiel der verachtete rechte Pöbel. Der Schrei nach Aufmerksamkeit der ersteren findet nur gerade mehr Gehör, weil er der aktuellen Ausrichtung der Struktur, lauter gleichartiges Personal und Konsumenten zu schaffen, momentan eher entspricht.
Wer sich in seine identiäre Monade zurückzieht, schürt nur den Krieg aller gegen aller, den eigentlichen Treibstoff des angeblich verachteten Systems, die hart gezogene Trennung zwischen Dir und mir.
Und ja, es gibt diese Gemeinsamkeit, Leid ist universell, lediglich graduell über die sozialen Schichten verteilt, an der Tatsache, dass alle bedingt durch die Umstände der Systemlogik Gefangene sind, ändert das nichts. Wer will schon ernsthaft mit einem Milliardär tauschen, oder einer Bundeskanzlerin? Die Verstrickungen, die sich an diesen Kristallationspunkten unserer gesellschaftlichen Reproduktionsmuster ergeben, müssen einfach nur grauenhaft sein und das ist egal, ob Frauen, Männer oder Diverse diese Positionen besetzen.
Steht im Vorspann und im Info-Kasten und wird auch im Interview erwähnt: Der Titel heißt IDENTITTI. Hätte ich mich nicht zu fragen getraut.
Wer mehr wissen will: Volker Weidermann hat mit der Autorin in seiner Büchershow über ihr Buch gesprochen (SPIEGEL online).
Ich habe nicht den Titel vermisst, sondern dass Thomas Hummitzsch nachgefragt hätte, welche Bewandtnis es mit diesem Titel bzw. seiner Schreibweise auf sich hat.
Gerne werde ich deutlicher: Der zweite Teil des Begriffs "Iden-Titti" hat eine Konnotation, über die zu reden in meinen jungen Jahren selbstverständlich war, heute hingegen eher hinter vorgehaltener Hand geredet wird.
Gibt Mihtu S. dazu im Gespräch mit Volker Weidermann etwas preis?
Hier lässt sich das herausfinden:
https://www.spiegel.de/kultur/literatur/mithu-sanyal-ueber-ihren-roman-identitti-ich-waere-im-moment-auch-ungern-weiss-a-763066b8-c62b-4409-a9d3-1a50e24a00ff
Der Titel (Zitat) des verlinkten Beitrags ("Ich wäre im Moment auch ungern weiß") ist in mancherlei Hinsicht bedenkenswert, finde ich. Ich könnte auch sagen: AUFSCHLUSSREICH.
"Gerne werde ich deutlicher: Der zweite Teil des Begriffs "Iden-Titti" hat eine Konnotation, über die zu reden in meinen jungen Jahren selbstverständlich war [...]"
Und das bei Jungs und Mädchen. Oder ich hatte den falschen Umgang...
Danke für den Link. Ich vergesse im Moment etwa 5/4tel meiner Vorhaben. Ohne Spott wäre das nur schwer zu ertragen.
Wenn Sie schreiben: ""Ich könnte auch sagen: AUFSCHLUSSREICH." erwidere ich gerne als vielfacher Teilnehmer von Meisterschaften in Wortklauberei: sagen Sie es doch, sagen Sie es.
:-)
Inhaltlich bin ich in meiner Lebenswelt mit dem Thema ganz konkret verbunden, da man meine beiden Kinder wohl ebenfalls als mixed-race bezeichnen könnte, wobei der Begriff der Rasse schon lange völlig deplatziert ist. Es gibt nur eine Menschenrasse, mit eben zahlreichen Ausprägungen, deren genetischen Unterschiede verschwindend gering sind. Der genetische Abstand der Bonobos, die mit angeblich bis zu 99,4% genetischer Gleichheit die nächsten Geschwister des Menschen sind, ist im Vergleich dazu sehr viel größer.
Anstatt „Mindcontrol“ oder „Sprachcontrol“ zu betreiben, sollte der Fokus vielmehr auf dem Segen der Vielfalt liegen. Die unglaubliche Anpassungsleistung der Menschen bei ihrer evolutionären Ausbreitung über fast den ganzen Planeten und die daraus entstandenen kulturellen Unterschiede sind Quelle unglaublichen Erfahrungsreichtums, von dem wir heutzutage auch dank der Globalisierung erkenntnismäßig bestens profitieren könnten und sollten. Meinen Kindern habe ich stets vermittelt, dass es für sie eine unglaubliche Bereicherung ist, dass sie mit jeweils einem Bein in einer anderen Kultur stehen.
Ihre Identität? Sie umfasst genau das. Aufgrund einer großen Familie gibt es rege Kontakte sogar in noch eine weitere Kultur?
Identitätsprobleme? Die konnte ich bisher nicht an diesen inzwischen erwachsenen Menschen feststellen. An Selbstbewusstsein mangelt es ihnen jedenfalls nicht.
Obwohl oder auch gerade auch weil ich mindestens die Hälfte meines Lebens mehr Kontakt zu Menschen aus anderen Ländern und Kulturen hatte, stellen für mich die Fragen nach der Herkunft, nach der Herkunft der Eltern, nach der kulturellen Prägung, nach dem kulturellen Zugehörigkeitsgefühl etc. sehr wichtige Fragen dar, wenn es darum geht, dass das Interesse an der Person des anderen zum Vertiefen der Kommunikation zu benutzen. Es gibt für mich kaum etwas Inspirierenderes und Erhellenderes in der Kommunikation mit Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund, als wenn man es schafft, vom Berichten von den eigenen kulturellen Hintergründen, über den respektvollen, kritisch offenen Vergleich hin zum gemeinsamen herzhaften Lachen über jeweilige kulturelle Verschrobenheiten gelangt.
Wie denn sonst bitteschön, soll man von Menschen mit anderen Erfahrungshintergrund lernen können, was so ungemein wichtig ist?
Wer agiert hier denn eigentlich wirklich immer noch im rassistischen Korsett: Der, der offen interessiert nach dem jeweiligen persönlichen Hintergrund fragt, oder der, der aus einem völlig anormalen Herumdrucks-Modus erst gar nicht mehr herauskommt?
Wenn etwas wirklich anliegt, ist es, dass Menschen aus ihrer an Verhaltensstörung grenzende Selbstkontrolle (selber praktiziert und/oder vom Gegenüber eingefordert) wieder wegkommen und sowohl lernen, sich besser auszudrücken als auch das wirklich Gemeinte zu verstehen. Die völlig „entäußerte“ Fixierung auf die richtige Benutzung von Sprachhülsen ist in Wirklichkeit kommunikations-tötend und geistig beschränkt und beschränkend.
Ja, natürlich besteht die Notwendigkeit, bisher (oft unbewusst) benutzte diskriminierende Begriffe, Sprechweisen, Vergleiche etc. abzulegen. Das aber sollte einem Lernprozess entsprechen, der mit einer ausgewogenen, nicht umgekehrt verletzenden Informationskultur einhergeht, anstatt an Verbots-Totalitarismus zu erinnern.
Ja, natürlich muss unbewusster und bewusster Diskriminierung unmissverständlich entgegengetreten werden: gesamtgesellschaftlich, innerhalb der jeweiligen Gruppe und individuell. Die Intensität der Gegenreaktion richtet sich nach der Intensität der Diskriminierung, nicht aber die (vom Gegenüber zumindest potenziell nachvollziehbare) inhaltliche Klarheit, die stets vorhanden sein sollte.
Also Frau Sanyal (ich gehe davon aus, dass die Reihenfolge ihrer Namensnennung eingedeutscht ist – also Vornamen vor Familiennamen –, was keineswegs eine praktizierte Selbstverständlichkeit ist), ich würde sie, sofern es die Situation erlauben würde, sie trotz Ihrer durch Ihre sprachliche Erkennbarkeit als zumindest in Deutschland Aufgewachsene, mit großer Freude nach Ihrem kulturellen Hintergrund fragen und bei Interesse das Gespräch sogar im obigen Sinne weiter vertiefen.
Ihrer unübersehbaren inneren Strahlkraft – die nun gar nichts mit all den selbstverliebten, besserwisserischen „Grinsebacken“ zu tun hat, die einen leider optisch immer häufiger belästigen – entnehme ich, dass Sie damit keine Probleme hätten.