Niedersachsen: Von Hannah Arendt über Gerhard Schröder bis Scorpions
A-Z Am 9. Oktober wird in Niedersachsen gewählt, mit oder ohne gewisse Connections. Lange bevor Niedersachsen für Serienmörder, obskure Netzwerke, kitschige Balladen oder die VW-Pink Floyd-Edition bekannt wurde, war Lessing da
Diese zwei verbindet eine innige Freundschaft: Carsten Maschmeyer und Altkanzler Gerhard Schröder
Foto: Fabian Bimmer/AP/dpa
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Altes Land In Süddeutschland gebürtig, lag in meinem Kinderhirn alles nördlich von Hannover am Meer. Reisen der Kindheit und Jugend führten stets nach Süden, den Norden entdeckte ich erst spät, und mit ihm einen der schönsten mir bekannten Obstgärten: das „Alte Land“ mit seinen Apfel- und Kirschbäumen, Backsteinbauten und dem Himmel, der höher zu sein scheint als im Süden, zerrissen von wandernden Wolken – Dörte Hansen widmete ihm einen Roman. Das Alte Land in Niedersachsen, Deutschlands größtes Obstanbaugebiet, revidiert Kindheitserinnerungen, aber es reanimiert auch welche: Beim Anblick blühender Bäume denke ich an den fränkischen Obstgarten meines Großvaters, wo neben Apfel- und
n meines Großvaters, wo neben Apfel- und Kirsch- auch gepfropfte Birnbäume zweierlei Frucht trugen, an seine sorgsam gehüteten Bienen, die im Frühjahr die Blüten bestäubten. Ein wiedergekehrtes Kindheitsidyll. Beate TrögerEEi, das Aus der Dunkelheit drückt der Sturm fest die Tropfen an die Fenster der Gaststätte. Trotz des schlechten Wetters haben sich einige Gäste in der Traditionskneipe Das Ei unweit der Limmerstraße in Hannover eingefunden. Die Gäste entsprechen dem Stadtteil Linden an diesem Abend. Neben nach Berliner Luft duftenden Studierendengruppen in schwarz-weißer Rennvelo-Uniform sitzt rechts von mir ein älteres Paar. Sie starren griesgrämig in unterschiedliche Richtungen. Zwischen ihnen sucht ein schwarzer Hund nach Freiheit. Während mein Bier auf dem Eichentresen schal wird, bedrückt mich der Gedanke, dass ausgerechnet hier, in der Heimatstadt der Schallplatte, Musik übers Internetradio läuft. Wie überall werden Entscheidungen offenbar nach Gewohnheit getroffen, wie auf Landesebene (➝ Hannover-Connection). Das ältere Paar reicht mir über ihren Cerberus hinweg die Speisekarte. Widukinds Großkinder können sogar lächeln. Ich danke und lächele zurück: Ihr seid die Niedersachsen! Kolja DrescherFFritz Haarmann Am 15. April 1925 wurde in Hannover Fritz Haarmann hingerichtet. Er war einer der bekanntesten Serienmörder der Weimarer Republik. Ihm konnten 24 Morde an jungen Männern nachgewiesen werden (➝ Tatort), Haarmann behauptete stets, es wären sehr viel mehr gewesen. Hartnäckig hielten sich die Gerüchte, er hätte das Fleisch seiner Opfer als Pferdefleisch verkauft. Der Fall, die Ermittlungen und auch der Prozess warfen viele Fragen auf und stießen mehrere Diskurse an, u. a. zur Zurechnungsfähigkeit, aber auch zum Umgang mit Homosexuellen in Gesellschaft und Justiz.Haarmann war aber auch so etwas wie ein Popstar. Sein Fall weckte weltweit Aufmerksamkeit. Dessen war er sich bewusst, darum schlug er vor, dass seine Hinrichtung gefilmt und im Kino gezeigt würde. Dazu ist es nicht gekommen. Außerdem wünschte er sich, dass er noch in hundert Jahren bekannt sein würde – das ist in Erfüllung gegangen. Schon zu Lebzeiten ging er als Figur in Hoch- wie Populärkultur ein, bis heute hat sich das nicht geändert. Für Hannover ist er fester Bestandteil des Stadtmarketings, mehrere Stadtführungen folgen seinen Spuren, auf der Expo 2000 war eine Haarmann-Meile geplant, unter anderem sollte Blutwurst verkauft werden. Kirsten ReimersHHannover-Connection Die Hannover-Connection ist eine Medienerfindung rund um die Kanzlerkandidatur Gerhard Schröders im Jahr 1998. Der ortsansässige Milliardär Carsten Maschmeyer meinte, „der nächste Kanzler muss ein Niedersachse sein“. Also schaltete er eine gleichlautende Anzeigenserie in den überregionalen Medien. Der Rest ist Folklore. Sie diente dazu, eine eher langweilige Landeshauptstadt mit ausreichend Glamour, Filz und Rotlicht-Charme auszustatten. Kir Royal auf protestantisch sozusagen.Jahre später erhob Lutz Hachmeister die Residenzstadt in den Stand eines „Machtzentrums der Republik“, weil von hier tatsächlich Großes ausging: die SPD Kurt Schumachers, die Evangelische Kirche, Augsteins Spiegel und die ➝ Volkswagenstiftung. All das ergab den Hannover-Komplex. Er ist stabiler als jede Amigo-Connection. Wolfgang MichalLLankweilich Arno Schmidts Roman KAFF auch Mare Crisium erschien 1960 nach der Niederlage der deutschen Anti-Atom-Bewegung. Er spielt teilweise auf dem Mond, weil die Erde nach dem Atomkrieg unbewohnbar ist. Vor dem Krieg streitet ein Liebespaar über die „Lankweilichkeit“ der Wälder Niedersachsens.Verglichen mit dem Mond, wo man sich den Hintern mit Schiefer abwischt, weil das Papier ausgegangen ist, sind sie freilich ein Paradies! Schmidt selbst lebte in der Lüneburger Heide, die wird er nicht „lankweilich“ gefunden haben. Michael JägerPPowerballade Jedes Ereignis braucht seinen Soundtrack – sei er nur angedichtet. Um den Status des 89-Wendelieds ringen zwei Fraktionen. Die Simplen setzen auf David Hasselhoff, die Sanften schwenken ihre Feuerzeuge zu Wind of Change von den Scorpions. Allerdings kamen die Hardrock-Schnulzer aus Hannover mit der versäuselten Powerballade zu spät. Veröffentlicht wurde sie ein Jahr nach Mauerfall im November 1990, die Auskopplung als Single folgte Monate darauf. Das Wind-Geheule soll den Geist von Glasnost, Perestroika und dem Fall des Eisernen Vorhangs transportieren. Dass das nur Kitsch ist, zeigt sich 2022. Die Scorpions widmeten den Song nun der Ukraine. Nur was hat die Tauwetter-Hymne mit Putin zu tun? Tobias Prüwer RRegionalkrimis Sie liegen absolut im Trend. Auch in Niedersachsen schießt Menschlich viel Fieses ins Kraut, um ein frühes Buch des Schriftstellers und Kempowski-Verehrers Gerhard Henschel (geboren 1962 in Hannover) zu bemühen. Ins Heidekraut schießt es besonders. Rund um Lüneburg ist alles ein einziger ➝ Tatort: Heidefeuer, Heideopfer, Heidefalle, Heidejagd – das sind nur einige Titel.Von wegen ländliche Idylle. Dieses Lokalkrimi-Unwesen hat Henschel gereizt, nach den hochgelobten Büchern über seine Herkunft, Kindheit und Jugend, dieses Genre satirisch aufzuspießen. So entstand Soko Heidefieber (2020), ein Buch, das allerdings schon im Untertitel Überregionalkrimi den Anspruch auf „Höheres“ anmeldet. Dort geht es um einen Serienmörder, der es auf die Autoren von Regionalkrimis abgesehen hat. Abstruseste Meuchelmordtaten und allerschrägste Motive verraten das Wirken des einstigen Titanic- und preisgekrönten 60-jährigen Autors, der mittlerweile in der Nähe von Hamburg lebt. Magda GeislerSSoziologenzirkel Niedersachsen ist nicht nur Agrarland, sondern da blüht zwischen dem Heidekraut (➝ Regionalkrimis) die Wissenschaft. Hannah Arendt stammt aus Niedersachsen, der in Leipzig schlecht gelittene Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz ließ sich hier nieder – der berühmte aus Hannover stammende Keks wurde nach ihm benannt.An der hiesigen Universität formierte sich ab 1970 um Oskar Negt ein sehr linker Soziologenzirkel, zu dem u.a. Gert Schäfer gehörte. Negt, Vertreter der Frankfurter Schule, lehrte hier bis 2022. Bildung und Gewerkschaftsbewegung sind zwei seiner Forschungsthemen, die er stets mit der Praxis verzahnte. Seine Abschlussvorlesung hieß Sein und Sollen. Ein Epochengespräch zwischen Marx und Kant. Negt geht es um eine Demokratisierung aller Lebensbereiche, er gründete die alternative Glockseeschule in Hannover mit. Er bleibt aktuell: „Im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es. Es mag ein bisschen verstaubt und anachronistisch klingen, aber ich sehe nur eine Möglichkeit: politische Bildung.“Tobias PrüwerTTatort Hannover/Göttingen Es liegt ein langer Weg hinter Maria Furtwänglers Tatort-Kommissarin Charlotte Lindholm, seit sie 2002 eine vergiftete Keksmischung nahe Vechta erstmals auf den Plan rief. Danach hatte es die Einzelkämpferin mit allerlei zu tun: vom Hexenkult über Homophobie im Profifußball bis zur Zwangsprostitution. Unvergessen bleibt die Giftschrank-Episode Wem Ehre gebührt, die nach Protesten der Alevitischen Gemeinde nicht wiederholt wird. Ansonsten war der Hannover-Tatort (➝ Regionalkrimis) sehr beliebt, bescherte Furtwängler den Deutschen Fernsehpreis und die Ehre, im 1.000. Tatort in einem Crossover mit dem Kieler Kommissar Borowski (Axel Milberg) aufzutreten.Nur, dass das bewegte Privatleben von Lindholm ständig in die Krimi-Plots ragte, nervte Kritiker:innen: Drei Episoden lang währte ihre große Liebe zum Staatssekretär Tobias Endres (Hannes Jaenicke), der in einem dramatischen Showdown vor ihren Augen starb. Nach einer kurzen Romanze in Spanien wurde sie zur ersten schwangeren „Tatort“-Kommissarin und zur alleinerziehenden Mutter ihres Sohnes David. Derweil schmachtete ihr Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) ihr vergeblich hinterher – bis zur Episode 17, als er sich brieflich aus ihrem Leben verabschiedete. Nachdem Lindholm ein schwerer Ermittlungsfehler unterlaufen war, wurde sie vom LKA Hannover zur Kripo in Göttingen strafversetzt, wo sie am 9. Oktober ihren 30. Fall (Die Rache an der Welt) erleben soll. Dobrila KonticVVolkswagen Mit dem „Käfer“ fing sie richtig an, die westdeutsche Konsumgesellschaft. Jeden Tag früh zur Schicht und im Urlaub ab nach Italien. Dass er mal „KdF-Wagen“ hieß, war vergessen. Die bis 1939 für ihn eingezahlten Spareinlagen nicht. Vielen Autokäufern wurden sie von VW noch bis 1970 als Kaufnachlass angerechnet. Dann kamen Golf und Passat, die Pendlerpauschale, der Carport am Eigenheim, ein Abgasskandal und die Currywurst als Kraftriegel. Es kamen die Golf-Sondermodelle Pink Floyd, Rolling Stones und Bon Jovi. Man vermisst leider die Scorpions (➝ Powerballade). Die Symbolkraft des VW-Signets findet inzwischen noch anderen Ausdruck. Radelt man im Saale- oder Werratal, kann es passieren, dass man am beflaggten exterritorialen Ufergrundstück eines Reichsbürgers vorbeikommt. Am davor geparkten VW-Passat hat ein Reichsadler das VW-Signet in seinen Krallen. Und der dem Radwanderer entgegenblickende Fahrzeughalter trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Waffenschmiede Wolfsburg“. Michael SuckowZZeugnis Im 17. Jahrhundert als größte Bibliothek jenseits der Alpen bewundert, avanciert die durch Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg (1528 – 1589) in Wolfenbüttel gegründete Herzog August Bibliothek im 18. Jahrhundert zum Zentrum der deutschen Aufklärung – dank ihres von 1770 bis zu seinem Tode 1781 dort tätigen Bibliothekars Gotthold Ephraim Lessing. Seit 2008 bewahrt die Lessing-Bibliothek einen sensationellen antiquarischen Fund des Autors. Lessings Brief an Elise Reimarus (von 1778) ist beredtes Zeugnis seines Unterlaufens des ihm auferzwungenen Schreibverbots zur Religionsfreiheit. Mit der Ringparabel Nathan der Weise wird das Theater zum Ort freier Gedanken. Helena Neumann
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