Niemand und nichts ist vergessen

Russland Russlands Präsident Medwedjew nutzte den 64. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland, um vor Geschichtsfälschern und "neuen militärischen Abenteuern" zu warnen

Man fühlte sich an diesem 9. Mai 2009 nachdrücklich auf der Seite der Guten in dieser Welt. Das ganze Land feierte. Millionen Russen trugen das schwarz-orange Georg-Bändchen. Es wurde umsonst verteilt und erinnerte an den Sieg im Zweiten Weltkrieg und die Millionen Opfer. Das Bändchen flatterte an Jacken-Aufschlägen, Taschen und Autoantennen. Niemand überwachte, ob man es trägt, was überflüssig gewesen wäre – die Toten des Krieges sind in fast jede Familien-Chronik eingebrannt.
Dmitri Medwedjew fand denn auch starke, eindringliche Worte: „Den entscheidenden Anteil am Ausgang des Zweiten Weltkrieges hatte unser Land – die Sowjetunion, gerade unser Volk hat den Nazismus zerstört, gerade unser Volk hat das Schicksal der Welt bestimmt und dafür einen unglaublichen Preis gezahlt.“

Für die West-Alliierten hatte der Präsident keine Erinnerung übrig. Stattdessen sparte er bei seiner Ansprache vor der Militärparade auf dem Roten Platz nicht mit deutlichen Worten. Der Sieg über den Hitler-Faschismus am 9. Mai 1945 sei „eine Lehre“ für all jene, die „erneut militärische Abenteuer anfangen“. Die Worte waren auf den Georgier Saakaschwili gemünzt, der im August 2008 den Krieg um die abtrünnige Provinz Südossetien anzettelte, was inzwischen auch Politiker in Tiflis eingestehen.

Auf die NATO ist Russland zur Zeit nicht gut zu sprechen. Das Manöver der Militärallianz in Georgien sei jetzt, da Kriegsherr Saakaschwili wankt, deplatziert, meint man in Moskau. Und dass sich der neue US-Präsident noch immer nicht zu einer Absage des Raketenabwehrschirms in Polen und Tschechien durchgerungen hat, heitert den Kreml ebenfalls nicht auf.

Überflüssige Manöver

Die Meinungsumfragen in Russland lassen keinen Zweifel: Der 9. Mai ist für die Russen kein Spektakel, sondern ein wichtiger Feiertag. Dafür sollte man ungeachtet der Krise Geld ausgeben, meinen 55 Prozent derjenigen, die vom unabhängigen demoskopischen Institut Baschkirowa Partner befragt wurden. 70 Prozent wollten sich die Live-Übertragung der Militär-Parade auf dem Roten Platz im Fernsehen ansehen.

Dass Russland und Westeuropa bei der Bewertung des Sieges über Hitler immer noch weit auseinander liegen, zeigte eine Umfrage des WZIOM-Meinungsforschungsinstituts. Danach sind 77 Prozent der Menschen in Russland überzeugt, dass die Sowjetarmee die Länder Osteuropas von der faschistischen Okkupation befreit hat und ihnen die Möglichkeit gab, zu leben und sich zu entfalten. 60 Prozent unterstützen den Vorstoß von Katastrophenschutzminister Sergej Schojgu, das Leugnen des sowjetischen Sieges im II. Weltkrieg unter Strafe zu stellen.

Das Kriegs-Thema gäbe auf jeden Fall viel Stoff für russisch-europäische Talk-Shows und Historiker-Konferenzen. Das wäre eine gewinnbringende Investition für eine friedliche Nachbarschaft, gewinnbringender zumindest als NATO-Manöver in Georgien.

Lettische SS-Veteranen

Dass Russlands größter Feiertag in Westeuropa nur noch ein Randthema ist, verletzt die Russen. Wenn der Westen anerkennen würde, dass die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg den größten Blutzoll gegen Hitler entrichtet hat, würde es den Russen sicherlich leichter fallen, auch über die Schattenseiten des Zweiten Weltkrieges – wie etwa die Deportation der Tschetschenen und anderer Völker nach Mittelasien – zu sprechen. Der Versuch, die Rote Armee mit dem Stigma eines Okkupationsheeres zu versehen, führt dagegen zur Verhärtung. Man fragt, wo ist der EU-Protest, wenn in Riga SS-Veteranen der lettischen Soldaten gedenken, die an der Seite der Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpften. Wo bleibt die Ablehnung des Abbaus sowjetischer Soldaten-Denkmäler in Osteuropa – wo der Protest, wenn der ukrainische Präsident Juschtschenko die durch die Zwangs-Kollektivierung Anfang der dreißiger Jahre ausgelöste Hungersnot als "gezielten Genozid" gegen die Ukrainer bezeichnet.

Die Versuche, den 9. Mai zu verfälschen, würden von Jahr zu Jahr „härter, böser und aggressiver“, erklärte Dmitri Medwedjew in einem Video-Blog zum diesjährigen 9. Mai. Heute müsse man an Fakten erinnern, die noch vor einiger Zeit als unumstritten galten. Das sei „schwer, manchmal sogar widerlich“, meinte der Kreml-Chef. Soviel steht fest: Was den Zweiten Weltkrieg betrifft, besteht viel Klärungsbedarf zwischen dem Westen und Russland.


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