Nord-Stream-Anschläge: Wer hier wohl Käpt’n Blaubär ist
Sabotage Seine Enkel hielten seine Geschichten für Seemannsgarn. Meist lieferte Käpt’n Blaubär am Ende aber einen Beweis für deren Wahrheit. Ein solcher steht bei den verschiedenen Enthüllungen zu den Nord-Stream-Anschlägen noch aus
Die mutmaßliche Terror-Jacht „Andromeda“ steht jetzt aufgebockt in Dranske auf Rügen
Foto: Oliver Denzer/Reuters
So einig waren sich der ukrainische Außenminister und der russische Kreml-Sprecher wohl noch nie. Wenn, wie bei den neuesten Veröffentlichungen zu den Nord-Stream-Anschlägen, innerhalb von zwei Tagen mehrere Medien zum selben Thema Artikel publizierten, „handelt es sich um eine koordinierte Aktion“, sagte Dmytro Kuleba. Wladimir Putins Sprecher Dmitri Peskow wiederum wählte die Worte „gut koordinierte Medienkampagne“, um zu beschreiben, was die New York Times auf der einen und Zeit sowie ARD auf der anderen Seite des Atlantiks zuletzt zur Sprengung der Pipelines veröffentlicht hatten.
Demnach soll für diese eine „pro-ukrainische Gruppe“ verantwortlich sein. Eine Firma mit Sitz in Polen, die offenbar zwei Ukrainern gehöre
New York Times auf der einen und Zeit sowie ARD auf der anderen Seite des Atlantiks zuletzt zur Sprengung der Pipelines veröffentlicht hatten.Demnach soll für diese eine „pro-ukrainische Gruppe“ verantwortlich sein. Eine Firma mit Sitz in Polen, die offenbar zwei Ukrainern gehöre, habe eine Jacht gemietet, deren Besatzung „aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin“ am 6. September 2022 aufgebrochen sei, um Sprengsätze an den Nord-Stream-Röhren zu platzieren, derer drei durch die Explosionen am 26. September zerstört wurden. Eilig korrigieren mussten die deutschen Rechercheure die Route der Jacht: Diese habe nicht, wie angegeben, in Wieck am Darß Halt gemacht, sondern in Wiek auf Rügen.Die Kritik an Seymour HershEs ist nicht der erste Fehler beteiligter Medien: Der ARD-Faktenfinder hatte sich jüngst an einem „Sprengstoff in Pflanzenform“ abgearbeitet, dessen Verwendung der US-Journalist Seymour Hersh behauptet habe. Tatsächlich hatte der Faktenfinder „plant“ mit Pflanzen statt mit „platzieren“ übersetzt – Hersh hatte von platziertem, häufig militärisch verwendetem C4-Sprengstoff geschrieben. Ein von der Tagesschau als Experte in diesen peinlichen Strudel gezogener Lehrbeauftragter für Sprengtechnik des Karlsruher Instituts für Technologie schilderte hernach ausführlich, auf welche Abwege sich die Redaktion begeben hatte.Hersh Rekonstruktion der Anschläge als von US-Präsident Joe Biden freigegebene militärische Kommandoaktion mit norwegischer Unterstützung hatte der Bannstrahl der Kritik getroffen, weil sie auf einer anonymen „Quelle mit direkten Kenntnissen der operativen Planung“ basierte. Während die New York Times nun die Aussagen von „US-Beamten“ über „Geheimdienstinformationen“ als Quelle angab, verwiesen ARD und Zeit auf „forensische Erkenntnisse“ deutscher Ermittlungsbehörden, wie noch im Januar bei einer Untersuchung der Jacht festgestellte Sprengstoffspuren, und „Quellen in mehreren Ländern“. Ein Täuschungsmanöver unter falscher Flagge sei nicht auszuschließen.Zweifel an der Schilderung äußerte im ZDF Göran Swistek, bei der Stiftung Wissenschaft und Politik Experte für maritime Sicherheit und den Ostseeraum sowie Fregattenkapitän: „Das sind eine ganze Menge Ressourcen, eine ganze Menge Komplexität, die in dieser Operation“ steckten. „Das kann man nicht mit einer kleinen Gruppe, so wie das jetzt gerade in den Medien durchläuft, organisieren.“„Verfassungsfeindliche Sabotage“Ob deutsche Ermittlungsbehörden nun der Aufklärung der Anschläge wirklich nahegekommen sind oder mitsamt von Medien zu nützlichen Idioten einer False-Flag-Operation wurden, die von den eigentlichen Tätern ablenkt – eines sollte ins Auge fallen und beunruhigen: Der Generalbundesanwalt betrachtet die Ermittlungen „wegen des Verdachts der verfassungsfeindlichen Sabotage“ als Chefsache, was vorzugsweise dann geschieht, wenn Staatsinteressen Deutschlands berührt sind. Falls es so gewesen sein sollte, wie es nach den lancierten Recherchen gewesen sein könnte, muss konsequent zu Ende gedacht werden, was das bedeuten würde.Dann nämlich hätten ukrainische Kräfte – egal, woher die kamen und welcher Order sie folgten – deutsches Staatsgebiet für einen Sabotageakt gegen russische Energieinfrastruktur benutzt. Da es gerade einen Krieg zwischen der Ukraine und Russland gibt, unterliegen diese Handlungen zwangsläufig einer entsprechenden Deutung. Dies könnte auf die Schlussfolgerung hinauslaufen, dass von deutschem Boden aus russisches Equipment einer für Europa gedachten Energieversorgung attackiert worden ist. Nicht nur theoretisch, ganz praktisch wäre Deutschland damit vorübergehend zu einem Nebenkriegsschauplatz geworden. Man hätte es mit einem klassischen Fall für militärische Handlungen zu tun, die als verdeckter, subversiver Akt stattfanden.Geheimdienst oder PartisanenOb es sich bei den Akteuren um reguläre Militärs oder Geheimdienstkader der Ukraine handelt oder um Personal, das der Kategorie Freischärler/Partisan zuzuordnen ist, tut wenig zur Sache. Nach den Genfer Konventionen von 1949 wird diesen Akteuren im Unterschied zur vorherigen, sich auf die Haager Landkriegsordnung von 1907 berufenden Praxis ein Kombattanten-Status zuerkannt. Eine Bedingung: sie müssen organisiert sein, das legen die jetzt kolportierten Erkenntnisse zumindest nahe. Eine andere Bedingung: sie müssen Waffen sichtbar bei sich führen, das schließen die kolportierten Erkenntnisse nicht aus. Schließlich muss, was diese Kombattanten tun, als eine sichtbare Kampftätigkeit erkennbar sein. Deren Ergebnis – die Sprengung von Pipelinesegmenten – war Ende September 2022 über alle Maßen sichtbar.Um eine historische Parallele zu bemühen: Während des Vietnam-Krieges gingen die USA als Kriegspartei Ende der 1960er-Jahre davon aus, dass Nachschub für die Südvietnamesische Befreiungsfront FLN aus Nordvietnam über die Nachbarstaaten Laos und Kambodscha geleitet wurde. Erhalt und Betrieb des Wegenetzes und der Logistik des „Ho-Chi-Minh-Pfades“ betrachteten die Amerikaner als aktive Kriegshandlung. Sie leiteten daraus das Recht ab, Territorien in Laos und Kambodscha flächendeckend zu bombardieren.Parallele Vietnam-KriegDiese Angriffe unterschieden sich nicht im Geringsten von dem, was zur gleichen Zeit als Luftkrieg der Air Force gegen Nordvietnam stattfand. Im März/April 1970 marschierte die US-Armee sogar in Kambodscha ein, um Nachschubwege und Waffendepots der Nordvietnamesen und FLN zu zerstören. Aus dem Vietnam- wurde ein Indochina-Krieg, der Staaten mit sich riss, die bis dahin stets jede Kriegsbeteiligung bestritten und vermieden hatten. Die in Gang gesetzte Eskalation führte zum Flächenbrand.Was seit der Offenlegung der „ukrainischen Spur“ durch deutsche Ermittler auffällt, ist die eilfertige Versicherung, dass die ukrainische Führung, im Besonderen Präsident Wolodymyr Selenskyj, mit dem Pipeline-Anschlag nichts zu tun hätte. Nur gilt auch hier, was für alle anderen der seit dem 9. März verbreiteten Erkenntnisse geltend zu machen ist: Es gibt weder Beweise noch Gegenbeweise für eine Nichtverstrickung der Kiewer Administration, von Armee und Geheimdienst. Solange das so ist, steht die Annahme im Raum, dass sie ein Sicherheitsrisiko für Deutschland sein können. Für andere, dem Krieg in der Ukraine in parteilicher Weise sekundierende Staaten wäre das kaum anders. Was heißt das für das Axiom von der vorbehaltlosen Unterstützung Kiews gegen Moskau? Gibt es einen Zwang zum Einstieg in den Ausstieg aus der Unbedingtheit dieses Beistandes?Brisante ErmittlungenRussland kann sich zur Verteidigung seiner energetischen Infrastruktur Gegenmaßnahmen vorbehalten, die über die Ukraine hinausgehen, auch wenn das wegen der damit verbundenen Risiken und nötigen Ressourcen derzeit wenig wahrscheinlich ist. Aber wer weiß das schon? Die in Deutschland vorherrschende Sicht auf den russischen Präsidenten Putin als eines unberechenbaren, skrupellosen Warlords legt wohl nahe, dass Rache und Revanche nicht auszuschließen sind.Auch dies taugt zum Hinweis auf die Brisanz der Ermittlungen des Generalbundesanwaltes. Und ob sie nun ergebnislos, ergebnisoffen oder ergebnisträchtig sind, der Sicherheit Deutschlands kann das in keinem Fall zuträglich sein. Ist man nicht schon genug exponiert?