Normalität? Dass ich nicht lache

Behinderte Behinderte sind mehr als "auch nur Menschen": Das erste Blatt der bundesdeutschen Behindertenbewegung nahm kein Blatt vor den Mund und war erfrischend unkorrekt

Krüppelzeitung – Der Name war natürlich als Provokation gedacht. Er wendete ein negativ besetztes Wort gegen die – im damaligen Jargon – "bestehenden Verhältnisse", um deren Beschönigung und Verschleierung durch Alltagssprache und politische Eliten zu entlarven. In insgesamt vierzehn Ausgaben zwischen 1979 und 1985 erschien dieses erste Printmedium aus der bundesdeutschen Behindertenbewegung, an das nun auch ein Buch erinnert: Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung (hg. Christian Mürner und Udo Sierck, Neu-Ulm 2009) .

Die Krüppelzeitung nahm das Leitmotiv der 68er-Bewegung von Emanzipation und Selbstbestimmung auf und artikulierte den sogenannten Krüppelstandpunkt in programmatischer und auch personeller Abgrenzung von Nicht-Behinderten und deren 'Normalität'. Selbstfindung, behinderte Identität, Alltagsdiskriminierungen, Heime und Werkstätten, behinderte Frauen und behinderte Männer, Eugenik und Humangenetik: das Blatt griff eine Vielzahl von heute noch aktuellen Themen auf. Immer wieder war auch die Sprache Gegenstand des Nachdenkens. "Auf der Suche nach meiner Idenität als Krüppelfrau", schrieb Nati Radtke, "fällt es mir schwer, für das, was in mir vorgeht, Worte zu finden. Auf der einen Seite begegnet mir eine Sprache, die mir gegenüber als Krüppelfrau Verachtung ausdrückt. Begreife ich mich als Krüppelfrau, fällt es mir schwer zu sagen: Ich bin schwerbehindert, gelähmt, lahm, missgebildet, ich hinke hinterher usw. Mit solchen Worten lasse ich mich auf die Reaktionen der anderen ein, die ich genau kenne: Ich werde nicht mehr ernst genommen."

Aber auch Gedichte und Märchen waren zu lesen. So fängt ein Gedicht von Cantel Liesel folgendermaßen an:

Warum lachst Du über mich?

Ist es denn mein Fehler,

dass der Ton meiner Stimme

Meinen Körper nicht verlässt?

Während die Sachtexte im Buch von Christian Mürner und Udo Sierck ausführlich rekapituliert werden, hätte man für den Geschmack des Rezensenten, der selber Poet ist, den Gedichten ruhig etwas mehr Raum geben können. Für den Kenner ist es dagegen interessant zu verfolgen, wie maßgebliche Persönlichkeiten und einflussreiche Akteure der deutschen Behindertenbewegung durch die Veröffentlichungen der Krüppelzeitung hindurchscheinen. Einige Konflikte der damaligen Zeit erscheinen aus der heutigen Warte gelegentlich etwas kurios und übertrieben, bestimmt auch der erfrischende Radikalität des Anfangs geschuldet.

Gegen die Scheinintegration

Diese Radikalität spiegelt sich eben auch im Titel der Zeitung. „Ehrlicher erscheint uns daher der Begriff Krüppel, hinter den sich die Nichtbehinderten mit ihrer Scheinintegration (‚Behinderte sind ja auch Menschen‘) nicht so gut verstecken können“, hieß es dazu. Hier erscheint die Diskussion der damaligen Zeit erfrischend altmodisch gegenüber einer Überflexibilisierung, nur vorgeschobener Integration, dem Disability Mainstreaming und einer Behindertenbewegung, die wähnt, sie sei inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Das trifft vielleicht für eine kleine Elite zu, aber bestimmt nicht für das Gros der Bewegung respektive den nicht bewegten Rest der Behinderten.
Verschleiert das politisch korrekte Sprechen von behinderten Menschen oder gar Menschen mit Behinderungen nicht immer noch extreme Benachteiligung? Verdeckt die Redeweise von den "Menschen mit Behinderungen" nicht jene goldene Regel der Behindertenbewegung: "Wir sind nicht behindert, wir werden es“ - wird doch das „mit“ als essentielle Bestimmung der Personengruppe gedeutet. Und sind die Gewinne wie die Barrierefreiheit auf der Folie oder die auf den Gesetzesblättern erreichten Fortschritte nicht inzwischen im nicht-behinderten Alltagsbewusstsein zur angeblichen Bevorteilung von Behinderten umgedeutet?

Drängende, anstößige Fragen, denen das außerordentlich lesenswerte Buch zur Krüppelzeitung gleichsam retrospektiv eine Schärfe geben. Neuer kämpferischer Elan kann der heutigen Behinderten-/Krüppelbewegung – obwohl der Name Krüppel der heutigen Zeit wohl unangemessen ist – nur gut tun. 1986 schloss sich die Krüppelzeitung mit der Luftpumpe zur Randschau zusammen, die im Jahre 2000 eingestellt wurde. Heutige Nachfolger sind etwa der Newsletter Behindertenpolitik oder das Internet-Nachrichtenjournal Kobinet.

Dr. Siegfried Saerberg


ist Soziologe, Schriftsteller und Komponist. Außerdem engagiert er sich im Verein Blinde und Kunst.

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