Sexarbeit ist als Sujet der Kunst alles andere als neu. In der europäischen Kunst der Moderne boomte das Motiv geradezu, wie etwa die Kunsthistorikerin Änne Söll erforscht hat. Die Frau, die sich selbst als Ware anbietet, war im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Inbild des rasant um sich greifenden Kapitalismus, der auch den Kunstmarkt revolutionierte. Von Édouard Manets Olympia über Picassos Les Demoiselles d’Avignon bis hin zu Otto Dix’ Großstadt war von der selbstbewussten, schönen Kurtisane, der sexualisierten und daher angsteinflößenden Frau bis zur stigmatisierten Prostituierten alles dabei, was der männliche Blick und das bürgerlich patriarchale System goutierten.
Aus feministischer Perspektive gibt es erst seit den 197
Perspektive gibt es erst seit den 1970er Jahren eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem provokanten Stoff. Er wird dabei jedoch nicht selten zur Projektionsfläche für die Künstlerin selbst und die Sexarbeiterin zum Symbol für die ausgebeutete Frau. Marina Abramovic’ Performance Role Exchange (1975), bei der die Künstlerin den Arbeitsplatz mit einer Sexarbeiterin aus dem Rotlichtmilieu in Amsterdam tauscht, ist hierfür das wohl eindrücklichste Beispiel. Anstatt selbst zu ihrer Ausstellungseröffnung zu gehen, schickt Abramovic die Sexarbeiterin Suze in die Galerie und nimmt währenddessen am Schaufenster der Sexarbeiterin Platz, um auf Kunden zu warten. Wenn Abramovic damit versucht, ähnliche strukturelle Bedingungen ihres eigenen Arbeitsumfeldes mit dem der Sexarbeiterin aufzuzeigen, so geht es ihr doch weniger um eine fundierte Auseinandersetzung mit den sozialen Bedingungen der Sexarbeiterin als vielmehr um Abramovic’ prekäre Rolle als Frau im Kunstbetrieb.Bei Candice Breitz ist nun neu, dass ihre Arbeit gemeinsam mit Sexarbeiter*innen entwickelt wurde. Sie sind in den Videos der südafrikanischen Künstlerin, die in Berlin lebt, weder als Objekt der Begierde inszeniert noch als passive Opfer dargestellt. Eine von ihnen ist Duduzile Dlamini. Sie ist Mitglied der SWEAT Community. SWEAT steht für „Sex Workers Education & Advocacy Taskforce“ – eine Gruppe, die sich in Südafrika für die Rechte von Sexarbeiter*innen einsetzt. Dlamini spricht über ihre Wut. Über Gewalt gegen Sexarbeiter*innen. Über das Gesetz, das ihre Arbeit kriminalisiert: „Es gibt kein Grundgesetz für uns. Es gibt keine Demokratie für uns“, sagt sie. Zu sehen ist nur ihr Mund in Nahaufnahme. Es geht um ihre Stimme, für die sie als Sexarbeiterin kämpfen muss.Candice Breitz, die ihr Heimatland Südafrika 2017 auf der Biennale in Venedig vertreten hat, nutzt ganz bewusst ihre Wirkung und Macht als erfolgreiche Künstlerin, um über die prekäre Lage der kriminalisierten Arbeiter*innen aufzuklären. Beim Thema Sexarbeit wird einmal mehr deutlich, dass Feminismus nicht gleich Feminismus ist. Welche weitreichenden politischen Folgen die Sicht weißer, privilegierter Feministinnen, die sich gegen Sexarbeit aussprechen und sie grundsätzlich mit Menschenhandel gleichsetzten, auf die reale Situation von schwarzen Sexarbeiter*innen in Südafrika haben kann, ist ein Dreh- und Angelpunkt von Candice Breitz’ Videoprojekt TLDR. In einer Drei-Kanal-Projektion greift sie dafür eine öffentliche Debatte von 2015 auf. Damals protestierte eine Gruppe bekannter Feministinnen zusammen mit Schauspielerinnen gegen die Bestrebungen von Amnesty International, Sexarbeit zu entkriminalisieren. Die Prominenz der Frauen – darunter Gloria Steinem, Emma Thompson, Meryl Streep und Lena Dunham – führte dazu, dass sich in der Öffentlichkeit eine sehr eingeschränkte Sicht auf die komplexen Zusammenhänge von Sexarbeit durchsetzte. Die Stimmen der Sexarbeiter*innen gingen dabei unter und Amnesty International gab schließlich klein bei; was zur Folge hatte, dass Sexarbeiter*innen in Südafrika und vielen anderen Ländern noch immer als Kriminelle gelten.Zu lang, nicht gelesenGegen die öffentlichkeitswirksame Offensive aus Hollywood setzt Candice Breitz für TLDR bewusst die Strategien sozialer Medien – Emojis, schnelle Schnitte, dynamische Musikeinlagen, eingebaute Videoschnipsel aus dem Netz. Nur wer Clicks generiert und Inhalte nicht kompliziert und lang vermittelt – egal wie komplex ein Thema ist –, hat die Chance, viele Menschen zu erreichen. Auch der Titel TLDR, eine Abkürzung für „Too long, didn’t read“ spielt auf die Herausforderung an, die eine neue Ökonomie der Aufmerksamkeit im Kampf um Meinungen mit sich bringt.Die Sexarbeiter*innen selbst treten in diesem Teil des Videos als selbstbewusste Aktivist*innen auf, sie halten Pappschilder in die Höhe, auf denen einprägsame Slogans wie „Sex Workers are not your Art“ und „Not your Pretty Woman“ stehen. Gekleidet sind sie hingegen in orangefarbene Overalls, die Häflingskleidung in Südafrika. Ihr Outfit lässt an die erfolgreiche Netflixserie Orange is the New Black denken. Ähnlich wie die Protagonist*innen dieser Serie gehen die Sexarbeiter*innen in Breitz’ Video mit ihrer Stigmatisierung als kriminalisierte und schwarze Minderheit auch selbstironisch um. Humor wird zur wirksamen Möglichkeit, sich aus der Opferrolle herauszuarbeiten. Dennoch, die Kleidung verweist auf das Kernproblem: die Kriminalisierung von Sexarbeit.Irritieren dürfte das Video schließlich auch wegen des zwölfjährigen Jungen, der mit dem Selbstbewusstsein eines Millennials die Debatte zwischen den Feministinnen aus Hollywood und den SWEAT-Aktivistinnen erklärt und kommentiert. Er ist der Erzähler der Tragödie und wird vom Chor der Sexarbeiter*innen kommentiert. Ist auch das Kind nur ein Mittel, um die Aufmerksamkeitsspanne zu verlängern? Als Sohn einer bekannten Feministin, die eng mit der SWEAT-Gruppe verbunden ist, ist Xanny Stevens im Kreise der Sexarbeiter*innen aufgewachsen, sie sind für ihn Vertraute. Für Breitz spielt er außerdem eine utopische Rolle. Xanny, der bald schon ein Mann sein wird, verkörpert eine Haltung, die sich grundlegend von der Position unterscheidet, die einem weißen privilegierten Mann in einer patriarchalen Gesellschaft zugewiesen wird. Er ist ein Grund zur Hoffnung.