Notare des Zeitgeists

Grundgesetz Verfassungsrichter gelten gemeinhin als Crème de la Crème der juristischen Weisheit. Doch sie greifen immer stärker gestaltend in gesellschaftliche Debatten ein
Ausgabe 28/2013

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat das Bundesverfassungsgericht mit den Worten kritisiert, gelegentlich sei der Eindruck entstanden, „es gebe einen Gestaltungsehrgeiz des Bundesverfassungsgerichts, der über die Aufgabe der Interpretation des Grundgesetzes hinausgeht“. Auch über den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, ein strebsamer Jurist aus dem bergigen Lipperlande, fand er schöne Worte: Der müsse „wissen, dass er auch selbst zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte wird, sobald er sich an einer öffentlichen Debatte beteiligt“.

Postwendend wurde Lammert aus den Parteien kritisiert, die sich gern als Bürgerrechtsparteien sehen. Der junge Herr Lindner (FDP) aus Nordrhein-Westfalen wandte sich dagegen, dass hier Kritik öffentlich gemacht werde. Der strenge Herr Beck von der Bundestagsfraktion der Grünen diagnostizierte mit Blick auf den jüngsten Streit der Union mit dem Bundesverfassungsgericht, diese habe „ein offensichtliches Problem mit dem Grundgesetz.“ Das bezog sich auf die familienpolitischen Vorstellungen der Christ-Parteien und das Urteil aus Karlsruhe zur Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften mit der Familie.

Darüber braucht nicht mehr gestritten zu werden, denn Karlsruhe hat gesprochen und dass dies zu respektieren ist, das weiß und daran hält sich jeder in CDU und CSU. Aber man begibt sich nicht daran, ein totes Pferd zu reiten, wenn man von diesem Beispiel ausgehend fragt, wo Lammert, der qua Amt wie Voßkuhle zu den obersten Repräsentanten der Bundesrepublik gehört und der sich ihm beugen, aber vor ihm nicht verneigen muss, vielleicht recht haben könnte. Also los.

Das Beispiel Familie

Was die Mütter und Väter des Grundgesetzes unter dem Wort „Familie“ verstanden, wissen wir. Nach den Erfahrungen mit der NS-Diktatur wurde im Parlamentarischen Rat über kaum einen Punkt so intensiv gerungen wie um Rang und Stellung der Familie. Was das Grundgesetz meint , wenn es von Familien spricht, wissen wir sehr genau. Und wer es nicht weiß, fragt besser bei Historikern, Philosophen und Soziologen nach als bei Juristen. Das jetzt die Karlsruher Richter unter Familie etwas ganz anderes verstehen, als das 65 Jahre alte Grundgesetz ist verständlich, wenn man den Wandel der Zeiten und der Gesellschaft berücksichtigt. Aber solcher Wandel ändert nicht das Grundgesetz. Und Richter sind nicht die Notare des Zeitgeistes.

Dazu muss man freilich bedenken, dass Richter am Bundesverfassungsgerichts keineswegs, wie die Bürger oft meinen, die Crème de la Crème der juristischen Weisheit sind. Um nach Karlsruhe zu kommen, braucht man nur die durch Examina erlangte Befähigung zum Richteramt – so wie jeder hauptamtliche Bürgermeister einer Kleinstadt auch. Da wurden nicht nur Professoren sondern auch immer wieder ausgediente Minister oder abgeschobene Abgeordnete Verfassungsrichter. So gesehen ist das Bundesverfassungsgericht eine vierte Kraft neben Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung.

Aber da genau liegt das Problem, dass man durchaus öffentlich erörtern darf und kein Problem mit dem Grundgesetz ist. In der Gewaltenteilung, an der wir im Staat ja wohl festhalten wollen, fungiert die Judikative neben der Exekutive und der Legislative und darf sich nicht fallweise an die Stelle der einen oder der anderen setzen.

Wenn das Familienbild der Gegenwart nicht mehr mit dem Familienbild des Grundgesetzes übereinstimmt, ist es nicht an Karlsruhe, dem Wort Familie eine neue Bedeutung zu geben (und so den Philologen ins Handwerk zu pfuschen), sondern es kann nur die Legislative – den Bundestag – auffordern, das Grundgesetz zu ändern. Was es ja schon gab.

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