Notfalls gegen das Gesetz

Unglaubliche Praktiken Steinmeier und Schily offenbaren im "Fall Kurnaz" ein schwer degeneriertes Rechtsverständnis

Ackermann von der Deutschen Bank, Pierer von Siemens und Hartz von VW - das sind die Normalfälle. Die Justiz hat dafür die mit dem Neoliberalismus verträgliche Rechtsform des Deals beziehungsweise Kuhhandels vorgesehen - die Betroffenen ihre Portokassen. Darüber kann man sich aufregen, muss man aber nicht. Nicht um Peanuts, sondern ums Ganze geht es im Falle von Murat Kurnaz, des Bremers türkischer Herkunft. Die Vorgänge, die jetzt ans Licht kommen, zeigen den Zustand von Demokratie und Rechtsstaat.

Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss stellten die Regierungsparteien CDU/ CSU und SPD keine eigenen Beweisanträge und stimmten diejenigen der Opposition einfach nieder. Der Regierungsapparat sorgte mit restriktiven Aussagegenehmigungen dafür, dass alles unter der Decke blieb - bis das ganze Ausmaß des Skandals dank einer Indiskretion durchsickerte. Das heißt, ein wichtiges Instrument demokratischer Kontrolle - der Untersuchungsausschuss - wurde im Zusammenspiel von Regierung und Regierungsparteien monatelang kaltschnäuzig lahmgelegt. Und große Teile der Presse, angeblich die vierte Gewalt im Staat, beschäftigen sich nicht mit der Verschleierungs- und Obstruktionstaktik von Regierung und Mehrheitsparteien, sondern mit dem Scheinproblem der Aktengeheimhaltung (FAZ) oder mit der niederträchtigen Herabsetzung des Opfers als "Bremer Taliban" (Springer-Presse).

Thomas Obermann, der Obmann der SPD im Untersuchungsausschuss, lehnte sich mit seiner Verteidigung der unglaublichen Praktiken von Steinmeier, Schily und anderen am weitesten zum Fenster hinaus. Wenn es nach seinem korrumpierten Rechtsverständnis ginge, hätte sich nicht Steinmeier für sein von Staatsräson und Sicherheitsideologie verblendetes Handeln wie Nichthandeln zu rechtfertigen und zu verantworten, sondern Kurnaz seine Unschuld zu beweisen.

Was jetzt sichtbar wird, belegt, dass der Kern des rot-grünen Regierungspersonals - von Kanzler Gerhard Schröder und seinem Minister Frank-Walter Steinmeier, Innenminister Otto Schily und Außenminister Joschka Fischer bis zu den servil-konformistischen Präsidenten der Geheimdienste - wegen schwerster Verstöße gegen elementare menschenrechtliche, rechtsstaatliche und verfassungsrechtliche Normen angeklagt gehören.

Im Namen einer angeblich gefährdeten Sicherheit verweigerten Schröder, Steinmeier und Schily rechtliche, politische und diplomatische Hilfe für das Folteropfer Kurnaz. Ihre Handlungsweise war nicht nur politisch falsch, sondern auch moralisch verlogen, weil man die USA wegen Guantánamo öffentlich kritisierte, aber einen Gefangenen dort schmoren ließ. Wenn sich nachweisen lässt, was sich bereits abzeichnet, sind Steinmeier, Schily und andere ein Fall für den Staatsanwalt.

Rot-grünes Doppelspiel: Schröder traf am 31. Januar 2002 mit Präsident Bush zusammen, vermied es aber, den Fall des nach Guantánamo entführten Bürgers auch nur zu erwähnen. Im September 2002 kamen die Experten von BND und Verfassungsschutz nach der Befragung von Kurnaz im Lager Guantánamo zu der Einsicht, dass dieser keinerlei Verbindung hatte zum Terrorismus. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Das hinderte Steinmeier, Schily und ihre Leute nicht daran, einen Plan auszuarbeiten, wie man Kurnaz an der Rückkehr hindern könnte.

Aus Schilys Apparat kam die perfide Idee, die unbefristete Aufenthaltsberechtigung in Kurnaz´ Pass "physisch" zu entfernen. Weil sich das Vorhaben nicht realisieren ließ, bat man in Bremen um Amtshilfe. Die dortige Innenbehörde duckte sich und widerrief im Mai 2004 Kurnaz´ Aufenthaltsberechtigung mit der aparten Begründung, der auf Guantánamo (völkerrechtswidrig) festgehaltene Kurnaz habe es verpasst, rechtzeitig um eine Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung nachzukommen und diese deshalb verwirkt. Nur drei mutigen Bremer Verwaltungsrichtern ist es zu verdanken, dass Schily mit seinem winkeladvokatorischen Trick ebenso scheiterte wie jene "furchtbaren Juristen", die in den fünfziger Jahren Wiedergutmachungsansprüche der Angehörigen von ermordeten Nazi-Opfern ablehnten, weil keine Totenscheine vorlagen.


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