Ein Novembertag kurz vor Mitternacht. Es brennt noch Licht im Büro des Genova Legal Forums (GLF) an der Via San Luca, nahe des antiken Hafens von Genua. Rechtsanwalt Emanuele Tambuscio sitzt vor seinem Computerschirm und schaut auf Bilder, die vor mehr als vier Jahre entstanden, während der stürmischen Tage im Juli 2001, als die Nachrichten von den Protesten gegen den G 8-Gipfel in der italienischen Hafenstadt von Stunde zu Stunde dramatischer klangen. Bis zu 300.000 Menschen demonstrierten damals gegen die acht mächtigsten Staatschefs der Welt. Die Bilder von prügelnden Carabinieri, Tränengasschwaden über den Boulevards der Innenstadt, von brennenden Barrikaden und vorrückenden Polizeiketten blieben im Gedächtnis nicht nur vieler Italiener haft
Notfalls hilft die Verjährung
Juristische Nachspiele zum G 8-Gipfel von Genua 2001 Nur im Film siegt am Ende das Gute
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iener haften.Auch Emanuele Tambuscio hatte am 21. Juli 2001 am großen Protestzug durch Genua teilgenommen, als ihn wenige Tage später eine Kollegin anrief, um zu fragen, ob er ihr bei einem Haftprüfungstermin für internierte Demonstranten beistehen könne. Tambuscio sagte zu - eine Entscheidung, die bis heute Konsequenzen hat.Der Anwalt sitzt an diesem späten Abend mit zwei freiwilligen Helfern vor Bildern, die am 20. Juli 2001 in der Via Tolemeide aufgenommen wurden, ganz in der Nähe der Piazza Alimonda, auf der an jenem Tage ein Carabinieri den 23-jährigen Carlo Giuliani erschossen haben soll. Ob es wirklich so war, bleibt umstritten. Doch damit ist Emanuele Tambuscio nicht befasst, er vertritt statt dessen einen 59-jährigen Mandanten, der auf der Via Tolemeide bei den Zusammenstößen mit der Polizei fotografiert wurde. Zusammen mit 24 anderen steht er deshalb seit anderthalb Jahren vor Gericht. "Im absoluten Widerspruch zu dem, was seinerzeit passiert ist, wird versucht, die 25 Angeklagten zu Sündenböcken für die Geschehnisse zu machen. Dazu wird ein Gesetz gegen Verwüstung und Plünderung bemüht, das bisher in Italien noch nie auf Straßenproteste angewandt wurde und wegen der G 8-Prozesse zum ersten Mal überhaupt in der Nachkriegsgeschichte dieses Landes eine Rolle spielt." Schlimmstenfalls bis zu 15 Jahre Haft drohen Tambuscios Mandanten.Im Foyer des Gerichtsgebäude von Genua, wo auch in Sachen Via Tolemeide Recht gesprochen werden soll, sind Sicherheitsschleusen wie auf einem Flughafen aufgebaut. Die Besucher legen ihre Taschen auf das Band, zuweilen schrillt ein Alarmsignal, doch die Carabinieri neben der Anlage interessiert das wenig. Es ist Dienstag und damit der wöchentliche Verhandlungstermin anberaumt. Richter Marco Devoto muss mehrfach ein Gähnen unterdrücken, als der Staatsanwalt einen Sachverständigen der Polizei zu einer endlos erscheinenden Reihe von Bildern befragt. "Ist das Hemd hier auf dem Bild das selbe wie das unter den beschlagnahmten Gegenständen mit der Nummer XY bezeichnete?" - Der Sachverständige bejaht oder verneint, bis der Richter zur Pause bittet, nicht ohne vorher bekannt zu geben, er habe die Herausgabe von etwa 20 Videokassetten verfügt. Ein Material, das der Verteidigung bisher nicht zugänglich war, handelt es sich doch um Bildsequenzen, die während des G 8-Tage von Kameras aufgezeichnet wurden, die in Polizeihelmen installierten waren. Tambuscio macht sich sofort auf den Weg, die Kassetten abzuholen.Lange Kette der HörigkeitEine Anwältin des Genova Legal Forums wird später im Prozess beantragen, dass Aufnahmen, die erst nach Ende der Ermittlungen aufgetaucht sind, für das laufende Verfahren nicht zugelassen werden. Richter Devoto lässt den Einspruch teilweise gelten, woraufhin die Verteidigung nachstößt: Der Sachverständige der Polizei solle sich demzufolge nur zu den von ihm bereits analysierten Bildern äußern und nicht Material einbeziehen, das vom Staatsanwalt erst jetzt - während des Prozesses - präsentiert werde. Auch dem wird stattgegeben. Kleine Erfolge bei einem Prozess, in dem die Verteidigung der Angeklagten nach Tambuscios Eindruck eher schwierig ist.Schwierig war für ihn nicht zuletzt auch der Augenblick, als der Chef seines Anwaltsbüros verlangte, entweder die Vertretung von G 8-Demonstranten aufzugeben oder die Kanzlei zu verlassen."Ich entschied mich zu gehen", erzählt Tambuscio, Vater zweier Kinder, mit verbittertem Blick. "Leicht war das nicht." Die G 8-Prozesse brächten übermäßige Belastungen, aber sie seien zugleich eine außergewöhnliche Erfahrung. Normalerweise müsse man als Anwalt nicht mit so vielen Kollegen kooperieren, doch bei den G 8-Prozessen seien derartige Mengen an Beweismaterial zu bewältigen, dass es anders nicht denkbar sei."Es hat mich schon sehr berührt, als ich am 25. Juli 2001 zur Haftprüfung ins Gefängnis nach Pavia kam." Erst dort übergab man Tambuscio die Polizeiprotokolle über die zumeinst sehr jungen Menschen. "Diese Unterlagen waren geradezu kryptisch und ohne jeden klaren Beweis gegen die Inhaftierten". Um sieben Frauen aus verschiedenen europäischen Ländern habe er sich dann sofort als Anwalt gekümmert. Man habe ihnen angesehen, dass sie geschlagen wurden, es habe sogar Knochenbrüche gegeben, alle seien sehr verängstigt gewesen.In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli - nach dem Ende der G 8-Proteste - hatte ein Großaufgebot der Polizei das Medienzentrum und die Schlafstätte in der Schule Armando Diaz blitzartig gestürmt, die dort untergebrachten Demonstranten und Journalisten (93 Personen waren es insgesamt) teilweise halbtot geprügelt und anschließend verhaftet. Tagelang, so erinnert sich Tambuscio, sei den Deportierten ein Anwalt verwehrt und damit das Grundrecht auf Verteidigung verweigert worden. Man habe beim Überfall auf die Diaz-Schule sehen können, "wie fragil das Rechtssystem ist und wie leicht Grundrechte aufgehoben werden können. Viele Beamte demonstrieren in solchen Situationen völligen Gehorsam, so dass eine regelrechte Kette der Hörigkeit entsteht. Sie reichte im Juli 2001 bis zum Staatsanwalt, der beantragte, die 93 Festgenommenen ohne jeden stichhaltigen Beweis vorläufig in Untersuchungshaft zu behalten." Erst drei oder vier Richter, die in das Gefängnis von Pavia, gut 100 Kilometer nördlich von Genua, gegangen seien, um sich ein Bild der Lage zu verschaffen, hätten diese Kette unterbrochen, als ihnen klar wurde, dass die Verhafteten Opfer von Grundrechtsverletzungen waren. "Diese Richter sind bis zum Obersten Gerichtshof gegangen, der dann Ermittlungen gegen die Polizei einleitete."Gefährlichster Feind der Anklage29 Polizisten sind im Prozess um die Vorgänge in der Diaz-Schule angeklagt. Staatsanwalt Enrico Zucca hat drei Jahre gegen Leute ermittelt, die ganz oben in der Polizeihierarchie sitzen wie Francesco Gratteri, im Juli 2001 Chef der italienischen Bereitschaftspolizei SCO, heute Kommandeur der Anti-Terror-Einheiten. Oder seinen Stellvertreter Gilberto Calderozzi, der sich nun ebenso vor Gericht verantworten muss wie Giovanni Luperi, damals Vizechef der UCIGOS* und zugleich Befehlshaber für die politische Polizei. "Ein mühseliger Prozess für die Staatsanwaltschaft", meint Emanuele Tambuscio.Die Polizeiführer haben renommierte Verteidiger bis hin zum ehemaligen Justizminister Alfredo Biondi engagiert. Ihr nicht minder verlässlicher Sekundant ist die Zeit - der gefährlichste Feind der Anklage. Die Verjährungsfristen für Vergehen wie Beweismittelfälschung, unterlassene Hilfeleistung, versuchten Totschlag, Amtsmissbrauch und Verleumdung liegen bei siebeneinhalb bis 15 Jahren. Bis zum Prozessbeginn sind bereits vier Jahre vergangen. "Etwa zwei bis drei Jahre werden die Verfahren allein in der ersten Instanz dauern", glaubt Tambuscio, es werde also knapp. Außerdem versuche die Berlusconi-Regierung noch bis zum Ende der Legislaturperiode ein Gesetz zu verabschieden, das die Verjährungsfristen erheblich verkürzt.Dies könnte auch den Prozess beeinflussen, bei dem es um Misshandlungen geht, denen die Insassen der Polizeikaserne von Bolzaneto bei Genua ausgesetzt waren und die bis zu Folterungen durch Polizisten wie medizinisches Personal gingen. Auch Tambuscios Mandanten aus der Diaz-Schule waren kurze Zeit dort fest gehalten worden, bevor sie ins Gefängnis nach Pavia kamen. Da es nach italienischem Recht aber bislang kein Gesetz gegen Folter gibt, wird es kaum möglich sein, die körperlichen Quälereien zu ahnden. Ein weiteres Hindernis ist die Dimension des Bolzaneto-Prozesses mit mehr als 250 Geschädigten und 45 Angeklagten. Das Verfahren begann am 12. Oktober 2005, ob allerdings jemals ein Urteil gesprochen wird - da ist Emanuela Tambuscio skeptisch. "Amerikanische Spielfilme verhelfen mir manchmal zu der Illusion, das Gute werde am Ende siegen", meint er lächelnd.(*) Zentralstelle für allgemeine Untersuchungen und SonderoperationenGenua im Juli 2001Unter der Schirmherrschaft des Genova Social Forums (GSF) hatte seinerzeit ein Bündnis von etwa 700 Parteien, Gewerkschaften, kirchlichen und politischen Gruppen wegen des G8-Gipfels zu Protesten aufgerufen. Die norditalienische Hafenstadt Genua verwandelte sich daraufhin tagelang in eine Art Festung. Die historische Altstadt wurde von der Polizei weiträumig mit einem vier Meter hohen Stahlzaun abgeriegelt und zur "roten Zone" erklärt. Italiens Regierung wie auch viele Medien hatten im Vorfeld des Gipfels gewalttätige Konfrontationen regelrecht heraufbeschworen. Trotzdem kamen fast 300.000 Menschen in die Stadt, in der dann am 20. und 21. Juli 2001 die Sicherheitskräfte mit ungeahnter Härte gegen die Demonstrationen vorgingen. Es kam zu blutigen Zusammenstößen, bei denen der 23-jährigen Genueser Carlo Giuliani den Tod fand.Nach dem Ende der Proteste, als die meisten Globalisierungsgegner die Stadt schon wieder verlassen hatten, überfielen Polizeiformationen das Pressezentrum des Genova Social Forums in der Via Battisti wie auch die als Schlafplatz genutzte Schule Armando Diaz. Eine Polizeiaktion, die mit willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen verbunden war.
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