Seit 25 Jahren arbeitet er an diesem Ort. „Zuhause ist für Verklemmte“, sagt der Mitarbeiter des LSD (Love-Sex-Dreams). Das erste Sexkaufhaus in Westberlin betreibt auch das Kino im Erdgeschoss und die Einzelkabinen davor. Der Mann hinter der Kasse hat das Kino nur über einen geteilten Bildschirm von außen im Blick. Kontrollgänge macht er manchmal. Zur Sicherheit. Fünf Männer sind gerade im Kino. Zwei Frauen. Was drinnen passiert, das bleibt drinnen. Die einzige Regel: „Es darf niemand zu Schaden kommen.“
Im Sexkino gibt es nur Vornamen. 24 Stunden hat es geöffnet, eine Karte kostet 12 Euro. Die Filme laufen in Endlosschleife, alle 20 Minuten eine neue Geschichte. Von morgens halb 7 bis halb 9 wird geputzt. Dann geht der Mitarbeiter
itarbeiter mit Mopp und Greifarm durch das Kino.Vor dem Kinoeingang versprechen Einzelkabinen Filme in Slowmotion und Szenensprung, Ton in Stereoqualität. Zur Animation fletscht ein Panther auf dem Bildschirm die Zähne. Eine junge Bulgarin mit Bauchtasche zeigt ihrer Begleitung, einem Freier, den Wechselautomaten. Die Kabine schließt per Münzeinwurf. Nach gut 20 Minuten geht sie wieder nach draußen zu den anderen Frauen auf der Kurfürstenstraße. Dorthin, wo auch schon Christiane F. das Geld für die Drogen verdiente. Um die Ecke machen die jungen Kreativen in den Galerien Feierabend. Potsdamer Straße und Kurfürstenstraße, das sind inzwischen zwei getrennte Welten, die an der Kreuzung aufeinanderprallen.Wollsocken beim VerkehrHinter den Kabinen, im Kino, beginnt noch eine andere Welt: Die Cruising World. In drei Räumen laufen Pornos für jeden Geschmack, Hetero, Trans, Gay. In den Gängen dazwischen verschmelzen sie zu einem einzigen Stöhnen. Die Filme sind durch Wände voneinander getrennt. In den Wänden sind Löcher in Dreieckform. Die Räume sind klein, nur ein paar Sitze, ein Stehpult, eine Rückbank. Wer eine Vorschau sehen will, kann auf zwei Bildschirmen verfolgen, was in den einzelnen Räumen läuft, oder eine Pause machen. Es gibt einen Kaffeeautomaten und einen Stehtisch.Durch ein Dreieck in der Wand sieht Ahmed die Frau an. Sie sitzt in einem der Kinosessel. Er beobachtet, wie die Frau auf die Leinwand blickt. Auf der Leinwand dringen zwei Männer mit ihren Penissen synchron in eine Schwarzhaarige ein. Ihre Bauchdecke ist weich, sie liegt schlaff auf ihren Oberschenkeln, der Mann hinter ihr quetscht sie mit seinen Händen zusammen. Seine Wollsocken hat er für den Verkehr nicht ausgezogen.Ahmed schaut nur auf die Hände der Frau im Kinosessel. Sie bleiben reglos in ihrem Schoß. Vor ihr stehen eine Box mit Taschentüchern und ein leerer Aschenbecher auf einem schmalen Bord, auf dem Boden steht ein Mülleimer. Der Müllbeutel ist frisch, noch hat keiner die Taschentücher benutzt, die Plastiksitze lassen sich einfach abwischen. Die Frau blickt hoch zu Ahmed. Ahmed lehnt sich zurück, verschwindet im Schutz der Dunkelheit. Sie kann ihn nicht mehr sehen. Er zieht seine rechte Hand aus der Hosentasche.Ahmed schlendert durch die von fahlem Licht erleuchteten Gänge. An jedem Ort spürt er die Anwesenheit der anderen. Meistens sind es Männer. Ein paar ältere sind darunter, wie der 65-jährige Georg im Anzug, der im Heterokino eine Cola trinkt. Aber auch solche wie Ahmed oder Henning, beide 40. Und Mustafa, 21.Die Männer kommen nicht zum Pornos Gucken hierher. Das können sie auch zu Hause. Sie kommen für die Öffentlichkeit. Früher, als es das pornografische Heimkino im Internet noch nicht gab, waren die Pornokinos mit Platzanweisern und Pärchensitzen die einzige Plattform für animierte Fantasien. Heute, sagt der Mann hinter der Kasse im ersten Stock, sind die Großkinos verschwunden, kann kaum einer mehr allein vom Kinobetrieb leben. Noch etwa 20 Pornokinos existieren in Berlin, der Stadt mit den meisten in Deutschland. Landesweit sind es noch etwa 160. Viele davon sind inzwischen zu Swingerclubs geworden, dominiert von Männern, oft dreckig. Einige Kinos sind gleichzeitig Bordelle. Das Pornokino in Berlin- Schöneberg hat dafür keine Genehmigung erhalten. Statt einem großen Kinosaal, wie es das früher gab, soll man die drei kleinen nutzen, die so genannte Cruising Area. Frauen sind selten. Paare kommen manchmal. An den Wochenenden wird es voll, sagt der Verkäufer. Das heißt zehn Männer. Das deckt nicht einmal die Stromkosten.Adrenalin für AnfängerIm ersten Stock werden außer Pornos auch Spielfilme verliehen. Neben Bildern von entblößten Busen hängt deshalb auch ein Plakat mit Morgan Freeman an der Wand. Ein Mann lässt sich bei der Wahl eines Gleitgels beraten. Sonst herrscht kaum Betrieb. Im Hintergrund singt Andrea Berg. Wie hier überhaupt Geld verdient wird, möchte der Mitarbeiter nicht sagen. Auch sein Chef, der in Berlin mehre Sexshops betreibt, lässt die Frage unbeantwortet. Deutschlandweite Zahlen für die Einnahmen aus Pornokinos gibt es nicht. Nur die vage Beobachtung des Kinosterbens und steigende Zahlen in den Statistiken von Online-Pornoanbietern wie YouPorn oder Pornhub: 49 Prozent der Deutschen gucken ihre Pornos laut Pornhub jetzt auf Smartphones, 38 Prozent am Computer. Absolute Zahlen veröffentlicht das Portal mit weltweit 81 Millionen Usern nicht.Einmal im Monat geht Ahmed in das Schöneberger Kino. Er braucht das Adrenalin, sagt er. Jedes Mal hofft er, dass eine Frau anwesend ist. Wenn eine da ist, sucht Ahmed ihre Nähe. Manchmal lassen die Frauen ihn zusehen, wenn sie sich selbst befriedigen. Manchmal kann er mit ihnen schlafen. Dann verschwinden sie gemeinsam hinter den schwarzen Wänden, verschließen die Türen der Kabinen für ein paar Minuten auf einem schmalen Bord. Manchmal bringen die Frauen ihre Partner mit. Dann sehen die Freunde Ahmed zu, wie er mit ihren Frauen schläft. Das ist selten, sagt Ahmed, aber es kommt vor. Manchmal muss man für die Frauen bezahlen. Eigentlich ist ihr Gebiet vor der Tür, dort liegt Berlins ältester Straßenstrich. Oder auf dem Parkplatz eines Möbelhauses, den man über den Hinterausgang des Kinos erreichen kann.Ahmed ist Single. Am Tag arbeitet er als Automechaniker. Haare hat er nur noch in der Mitte seines Kopfes. Er hält ihn gesenkt, während er seinen Bauch durch die dunklen Gänge des Kinos schiebt. Seine Hände stecken in den Hosentaschen. Er folgt der Frau, die den Raum mit den Heterofilmen verlassen hat.Sie steht an dem Stehtisch im Kino. Vor ihr die beiden kleinen Bildschirme, neben ihr Mustafa, 21, schiefe Zähne, gegelte Haare. Mustafa hält zwei Plastikbecher in der Hand. Er bietet der Frau einen Kaffee an, aus dem Automaten. Sie schüttelt den Kopf, in seiner Jeans drückt der erigierte Penis gegen den Reissverschluss. Mustafa hat ihn noch nicht geöffnet. Er möchte, dass die Frau das für ihn tut. Die Frau will nicht. Er grinst und fragt, ob sie gern zusieht. Auf dem Bildschirm dringen zwei Männer zeitgleich in den Anus einer Blonden ein. Der eine Mann spielt im Film ihren Vater, der andere ist der Poolboy. Seine Hautfarbe ist schwarz – in der Pornoindustrie heißt die Kategorie interracial.Mustafa zieht eine Zigarette aus der Schachtel. Ein Fremder klopft ihm auf die Schulter. Er will wissen, wo er Geld wechseln kann. „Zigaretten?“. Der junge Mann schüttelt den Kopf. „Ah, Sex!“, sagt Mustafa. Er erklärt dem Mann, wie er zum Wechselautomaten kommt. Mustafa ist vor einem Jahr aus Bulgarien nach Deutschland gekommen. Im Kino sucht er Anschluss. Am Tag lernt er Deutsch. Einmal in der Woche kommt er her. Dafür fährt er von Berlin-Marzahn etwa eine Stunde. Er wartet darauf, dass seine Lehrstelle als Tischler anfängt, sagt Mustafa. Im Kino wartet er auf eine Frau.Ahmed nähert sich der Frau am Stehtisch von der anderen Seite. „Darf ich dich anfassen?“, flüstert er in ihr Ohr. Seine Hände hält er eng am Körper, er will sie nicht verschrecken. Der 40-Jährige hat zunehmend Schwierigkeiten, zu sprechen, er ist zu erregt. Seine Augen fixieren ihren Mund. Sie will auch seine Hände nicht, Ahmed bleibt trotzdem bei ihr stehen. Sie ist die Attraktion heute Abend, er will nur in ihrer Nähe sein. Wie die anderen, die langsam einen Kreis um sie bilden.Die Frau verschwindet im Kino mit den Transfilmen. Ahmed setzt sich hinter sie in die letzte Reihe. Er guckt auf den reglosen Rücken der Frau. Mustafa erscheint. Der 21-Jährige holt sein Handy aus der Jacke, verschickt eine SMS, guckt sich ein Video auf Youtube an. „Hey!“, ruft ihm Ahmed zu, „du stehst im Bild!“ Mustafa entschuldigt sich. „Alles ok!“, sagt er. „Nicht ok!“ Mustafa zuckt die Schultern. Im Kino stört man sich nicht gegenseitig. Gespräche begrenzen die Männer auf ein Minimum. „Sex?“, fragt Mustafa die Frau zum wiederholten Mal. Sie reagiert nicht.Auf der Leinwand zieht ein älterer Mann einer Transfrau den Rock aus, im Hintergrund hängt ein Bild von Egon Schiele. Der Film ist auf Italienisch. Ahmed ist das egal. Er öffnet lautlos seinen Reissverschluss. Die Frau im Kino dreht sich um und sieht Ahmed an. Das gefällt ihm. Später hinterlässt er ein einsames Taschentuch auf dem Boden.
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