Notrufe in Geheimschrift

Textgalerie Michael Buselmeier interpretiert in seiner Lyrikkolumne "textgalerie" Harald Hartungs Gedicht "Die heiße Ofenplatte"

Harald Hartung

Die heiße Ofenplatte

Als Kind weil ich noch kein Geheimnis hatte

schrieb ich es auf mit Milch auf Briefpapier

und tat es auf die heiße Ofenplatte

bis Schrift erschien die bräunlich war wie Bier

Notrufe schrieb ich: SOS, die Emden

versinkt – das war symphonisches Gefühl

Ich zeigte meine Blätter keinem Fremden

das Fremde selbst, das Sterben kam zu mir

Es kam dann echt als fehlte der Beweis

Ein Landser (Bauchschuß) lag im Straßengraben

Ein Junge noch der nach der Mutter rief

Er sah mich an, er hielt den Kopf so schief

Die andern Landser trieb es fort sie haben

ihn da gelassen, und der Mai war heiß

Vor rund 30 Jahren hat Harald Hartung in der Neuen Rundschau und im Merkur Essays veröffentlicht, in denen er barsch über die damals viel gelobte „Alltagslyrik“ oder „Lyrik der neuen Subjektivität“ urteilte. Den Protagonisten dieser „lässigen Lyrik“ – Rolf Dieter Brinkmann, vor allem Jürgen Theobaldy, Jörg Fauser und Christoph Derschau – warf er „additive Beliebigkeit“, „fatale Ding-Magie“ und „Preisgabe des Kunstanspruchs“ vor und rief zu einer Rückkehr zur Form auf. Eine historisch so strenge Form wie die des Sonetts sollte „Schluß mit dem Schlendrian“ machen.

Schnee von gestern, denn die alten Fronten bestehen längst nicht mehr. Auf verschiedenen Wegen haben die einstigen Alltagspoeten, sofern sie noch am Leben sind, zur Tradition des sprachlichen Kunstwerks, zu Rhythmus, Metrum und Kreuzreim zurückgefunden, fast so als wären sie Hartungs Aufruf gefolgt. Auch er selbst hat noblerweise keine seiner Polemiken in seine Aufsatz-Sammlungen übernommen. Hartung gilt mittlerweile als „Dolmetscher der modernen Weltpoesie“ und ist als FAZ-Kritiker und Johann-Heinrich-Merck-Preisträger eine Art Instanz.

Wie wohl die meisten Lyrikexperten schreibt er selbst Gedichte, mit denen er freilich nie so viel Aufmerksamkeit erregen konnte wie die von ihm der Oberflächlichkeit geziehenen Alltagsdichter. Dabei fällt auf, dass seine sorgfältig gearbeiteten Texte zwar alles Modische meiden, jedoch Motive des Alltags bevorzugen. Sie treten leise und leichtfüßig auf, genau, aber sprachlich eher unspektakulär, müssen also kaum erläutert werden. Es sind ebenso bescheidene wie raffinierte Gebilde. Hartung bevorzugt Ruhe und Distanz, er neigt – auch altersbedingt – zur Kontemplation und zum Relativieren des eigenen Standpunkts, weshalb man seine Verse mit Vergnügen liest.

Als 1979 das erste Jahrbuch der Lyrik erschien, war Harald Hartung Mitherausgeber, und doch war die von ihm als „eindimensional“ kritisierte Lyrik der linken Subjektivität darin angemessen vertreten. Kürzlich ist das 27. und leider auch letzte Jahrbuch herausgekommen, in welchem auch zwei Gedichte von Hartung zu lesen sind. In ihnen geht es, wie so häufig, um Leben und Tod: kunstreich-einfache, mit Bildung und Lebenserfahrung gesättigte Verse, die souverän im fünffüßigen Jambus daherkommen. Ein Gedicht erinnert an den britisch-deutschen Lyriker und (Hölderlin-)Übersetzer Michael Hamburger, der 2007 in Suffolk starb. Neben der Dichtung widmete sich Hamburger dem Garten und besonders der Apfelzucht: „Durch wie viel Erde mußten diese Hände / etwas zu kappen oder fördern etwas / zu pflanzen…“

Das hier vorgestellte Gedicht erzählt vom Sterben als Abenteuerspiel, aus dem plötzlich Ernst wird, in der gebändigten Form des gereimten Sonetts. Kriegsende, Mai 1945. Der Junge, der mit dem Schrecken bisher eher spielte, indem er „Notrufe“ in Geheimschrift (so könnte man auch Gedichte bezeichnen) verfasste, findet im Straßengraben einen sterbend zurückgelassenen Soldaten, auch er ein „Junge“, der nach seiner Mutter schreit und nur wenige Jahre älter als der Beobachter selbst sein dürfte, den Kopf „schief“ haltend – ein Bild, das sich schmerzhaft einprägt.



Harald Hartung, geboren 1932 in Herne/Westfalen, lebt in Berlin. Von 1971 bis 1998 war er Literaturprofessor an der dortigen Technischen Universität. Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Jahrbuch der Lyrik 2009, S. Fischer Verlag, Frankfurt 2009

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