Nun wird es Zeit

Roboterstil Die lyrische Unrast des Rainer Maria Gerhardt

Im Sommer 1954 meldeten die Feuilletons den Freitod des 27-jährigen Dichters Rainer Maria Gerhardt, der in den einschlägigen Literaturkreisen als hochbegabtes Talent gelobt wurde. Eine Zeitlang trug ich die von ihm herausgegebene Zeitschrift fragmente in der Jackentasche, um bei jeder Gelegenheit seine und seiner Frau Renate Gedichtübersetzungen von T. S. Eliot und Ezra Pound aus dem Englischen zu lesen. Zu gleicher Zeit übersetzte ich selbst Gedichte von Schwarzafrikanern aus dem Französischen für die Zeitschrift augenblick. Dem sogenannten Kahlschlag waren im deutschsprachigen Raum Arbeitsgruppen gefolgt, die sich mit Versuchen beschäftigten, nach dem hohlen Pathos des Dritten Reichs der Lyrik eine neue Basis zu verschaffen: Unter ihnen die Stuttgarter Schule um Max Bense und Helmut Heißenbüttel mit ihren experimentellen Formspielen aus strengen mathematischen Methoden - und der Freiburger Kreis um R. M. Gerhardt und Klaus Bremer, von deren offenen Sprachkunststücken Gottfried Benn sprach, als er den Begriff der Phase II eines Roboterstils und der Montagekunst prägte. In diesen unterschiedlichsten Versuchen werde der Mensch neu zusammengesetzt "aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen: ...: der Mensch in Anführungszeichen."

M. Gerhardts Gedichte quellen über vom erregenden Gestus dieses Stils, Fremdwörter gesellen sich in den oft mythologisch ausufernden Sprachverlauf. Sein mehrteiliges Gedicht Der Tod des Hamlet - zu expressiven Holzschnitten des Saarländers Erwin Steitz, mit dem er eine enge Duzfreundschaft unterhielt - ist ein wunderbarer Beleg für Gerhardts Nervosität und Getriebensein: Seine Wortbilder illuminieren feuerwerksartig einen "unendlichen Raum". Er kann die Erweckung einer neuen Zukunft kaum erwarten und ruft aus: "nun wird es zeit"! Auch von seinen Briefen geht die Suggestion glühender Unrast aus: Er will rasch bekannt werden, Erfolg haben, für ein großes Publikum präsent sein. Erwin Steitz klagt er seine ihn demütigende Lohnarbeit für den Rundfunk, er will "raus aus diesem dreck ... und dann soll mir die welt am buckel herunterrutschen".

Unter dem Titel umkreisung ist nun als Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung das Gesamtwerk von Gerhardt erschienen. Herausgeber Uwe Pörksen lobt in seinem einfühlsamen Nachwort an einem der schönsten Gedichte den schwebenden Aufbau, die fragile und offene Form. Der Band enthält Gerhardts Dichtungen, Essays, Übersetzungen. Briefe und Stimmen über ihn bilden eine Parade kontroverser Meinungen: Arno Schmidt sagt: "Rainer M. Gerhardt bitt´ für uns."

Rainer Maria Gerhardtumkreisung. Das Gesamtwerk. Wallstein Verlag, Göttingen 2007. 544 S., 39 EUR

Ludwig Harig, geboren 1927 in Sulzbach ist einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Band: Kalahari. Ein wahrer Roman.

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