In Springfield im Bundesstaat Virginia, gleich an der Auffahrt zur Ringautobahn um die Hauptstadt Washington, haben die Gun Owners of America (Schusswaffenbesitzer von Amerika/GOA) ihr Hauptquartier. Die dreistöckigen Flachbauten hinter einem Bretterzaun konnten vor 30 Jahren als modern durchgehen. Heute wirken sie verloren. Unter einem Picknicktisch sammeln sich Kippen und leere Zigarettenschachteln. Doch hier residiert die Führung einer nach eigenen Angaben 300.000 Mitglieder zählenden Organisation. Und die meint es todernst, wenn sie erklärt: Schuld an den 28 Toten beim Newtown-Massaker im Staat Connecticut (s. Kasten) seien Vorschriften, die gesetzestreuen Bürgern den Waffenbesitz erschwerten. Die These von GOA-Chef Larry Pratt, einem der national wichtigsten S
Nur Jesus braucht kein Gewehr
USA Fromm, bewaffnet und konservativ: So wünscht Larry Pratt sich sein Land. Der Waffenlobbyist gehört zu den größten Gegnern Obamas. Unser Autor hat ihn besucht
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ichtigsten Streiter gegen Schusswaffenkontrolle, löste heftige Kritik aus in vielen Medien.Reagans AnspornEin CNN-Moderator habe ihn gerade als „dummen Mann“ beschimpft, erzählt Pratt. Aber wenn er Eltern heute frage, ob sie ihre Kinder lieber in einem Klassenzimmer mit einem bewaffneten Lehrer hätten oder nicht – dann hielten die Befragten erst einmal inne. Zudem illustriere das Newtown-Massaker, dass Schusswaffenkontrolle nichts bringe. Connecticut habe eine Wartefrist vor dem Waffenkauf. Und der Tatort lag doch offenbar in einer Gun Free Zone, in der das Tragen von Schusswaffen verboten ist.An den Flachbauten ist übrigens kein Hinweis auf die Gun Owners zu finden. Aber das Büro existiert und liegt im Erdgeschoss – kein sehr neuer Teppich, mehrere Zimmer, Schreibtische, Telefone, einige Computer älteren Datums, Schachteln mit Infomaterial. Am Eingang hängen die biblischen zehn Gebote. Das ist nicht das Washington der Lobbyisten mit teuren Anzügen und Frisuren, gepflegtem Mobiliar und karrierehungrigen Assistentinnen mit gedeckelten Kaffeebechern. Bei Larry Pratt gibt es keine Deckel fürs Styropor und nur vier Mitarbeiter. Der 70-Jährige ist schon seit der GOA-Gründerzeit Mitte der siebziger Jahre dabei. Er trägt ein blau-weiß kleinkariertes Hemd. In seinem Zimmer hängt die Kopie eines Gemäldes von George Boughton (1833-1905) und zeigt gut ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder, die irgendwann im 17. Jahrhundert zu einer Kirche im tief verschneiten Neuengland gehen. Die Frommen haben Bibeln dabei. Mehrere Männer tragen Gewehre. Womit Larry Pratts Wunsch-Amerika beschrieben wäre.Über Schusswaffen und das Recht zum Besitz derselben debattieren die Amerikaner seit Jahrzehnten. An die 30.000 Menschen kommen jährlich durch Schusswaffen ums Leben, bei Verbrechen, Unfällen, Suiziden. Im Zentrum der Gun-Debatte steht immer wieder die 1791 in die US-Verfassung hineingeschriebene Klausel zum Schusswaffenbesitz: „Da eine wohl organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden“, heißt es da. Der Zusatz erscheint interpretierbar, vor allem wegen der Milizen, die es heute so nicht mehr gibt. Doch Schusswaffenrechtler machen mit zunehmendem Absolutismus und Erfolg vor Gerichten geltend, der Staat dürfe ihre Rechte nicht einschränken. 200 bis 300 Millionen Schusswaffen lagern in den Vereinigten Staaten im privaten Depot. Genaues weiß man nicht. Schusswaffen sind Alltag, auch wenn junge Menschen heutzutage eher online schießen als auf dem Schießstand.Die Gun Owners of America entstanden als Gegenpol zu der bekannteren National Rifle Association. Die 1871 ins Leben gerufene NRA sei zu zahm und regierungsnah gewesen, sei sie doch gleich nach dem amerikanischen Bürgerkrieg entstanden, um jungen Männern das Schießen beizubringen. „Und der Regierung Schützen zu liefern“, wie Larry Pratt spottet. „Die sollten wenigstens ein Scheunentor treffen können.“Tatsächlich begrüßte die NRA 1934 ein „striktes Genehmigungsverfahren“ für Schusswaffen. Nach den Attentaten in den sechziger Jahren auf Präsident John F. Kennedy (mit einem per Post gekauften Gewehr) und den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King sowie den Rassenunruhen in amerikanischen Innenstädten sprach sich die NRA für ein Gesetz aus, das Bürgern mit krimineller Vergangenheit den Waffenbesitz verweigert und den Import billiger Handfeuerwaffen verbietet. Absolutistische Schusswaffenanhänger sahen darin ein Problem: Die Gun Owners of America orientierten sich ausschließlich an der Verfassung. Und da stehe nicht drin, argumentierten sie, dass die Regierung Vorschriften erlassen dürfe gegen Schusswaffenbesitz. In den siebziger Jahren habe man zudem festgestellt, so Pratt in seinem Büro, dass Waffenbesitzer eine sehr gut organisierbare Wählergruppe stellten. Das passte damals zum Zeitgeist: Konservative christliche Verbände schufen Graswurzelverbände, und in Kalifornien betonte Gouverneur Ronald Reagan kurz vor seiner 1981 beginnenden Präsidentschaft, die Regierung sei nicht die Lösung des Problems, sondern das Problem selber.Die heutigen Schusswaffen-Absolutisten – die Rifle-Association-Führung hat sich inzwischen „bekehrt“ – denken Ronald Reagan konsequent zu Ende, wenn sie die Ansicht vertreten: Letztendlich schützen die Waffen in Privathänden das Volk vor dem Staat. Larry Pratt sprach jüngst in Las Vegas bei einem Sheriff-Verband. „Schusswaffenrechtler“, erklärte er dort, „kämpfen gegen die Mentalität der herrschenden Klasse“, die der Meinung sei, dass es Menschen gebe, die zum Regieren bestimmt seien. Das mit dem Klassenkampf ist freilich kompliziert: Einerseits bekennen sich Leute wie Pratt zu Marktwirtschaft und Kapitalismus. Andererseits fällt ihnen schon auf, dass die wirtschaftlichen Großgewinner wenig Interesse haben an den moralischen Werten eines konservativen Amerikaners.Weiße GesichterWas dabei herauskommt, ist reflexartiger Widerstand gegen Regierungsvorschriften. Vor allem, wenn sie von Barack Obama kommen. Bei Meetings der Schusswaffenaktivisten sieht man fast nur weiße Gesichter. Die GOA und die NRA lehnen alle vorgeschlagenen Schusswaffenreformen ab, selbst die Vorlage, alle Käufer müssten sich einer Personenüberprüfung unterziehen. Nach dem Hurrikan Katrina im August 2005 habe die Polizei in New Orleans mit vorliegenden Daten über Schusswaffenkäufe versucht, die Waffen zu beschlagnahmen, erzählt Pratt. Man könne dem Staat einfach nicht trauen.Auf die nächste Frage hat Larry Pratt offenbar gewartet: Wie er denn die Bergpredigt mit ihrem Gebot der Feindesliebe in Einklang bringe mit Revolvern und Sturmgewehren? Laut biblischer Überlieferung habe Jesus doch vor seiner Festnahme im Garten Getsemani dem Apostel Petrus befohlen, er solle sein Schwert wegstecken. Pratt diskutiert gern Theologie: Der Chef der Gun Owners ist ein Ältester in der Harvester Presbyterian Kirchengemeinde in Springfield. Seit Jahren gebe er in perfektem Spanisch – dank seiner aus Panama stammenden Ehefrau – Bibelstunden für Einwanderer („Manche ohne gültige Papiere, manche mit, aber das ist mir egal“). Seine Kinder habe er früher oft mitgenommen nach Mexiko auf Missionsreise, dort konnten sie dann selber Armut und Korruption sehen.Die Bibel sei kein pazifistisches Buch. Die Aufforderung an Petrus müsse verstanden werden als Befehl, der Heilsgeschichte nicht im Weg zu stehen, der zufolge Jesus habe sterben müssen. Im Lukas-Evangelium, Kapitel 22, Vers 36, weise Jesus die Jünger an, zu der Verkündigung ein Schwert mitzunehmen. „Das Schwert war die Top-Waffe der damaligen Zeit“, erläutert Pratt. Das Buch der Sprüche mache klar, dass der Gläubige nicht feige sein dürfe und einen angegriffenen Mitmenschen schützen müsse. Denn „ein Gerechter, der vor einem Gottlosen fällt, ist wie ein getrübter Brunnen und eine verderbte Quelle“. – Was für eine Knarre Jesus wohl heute hätte? Keine, beschwichtigt Pratt. Er sei doch der Sohn Gottes, der zurückgreifen könne auf Heerscharen von Engeln.Theologen mögen Einwände haben gegen Pratts Auslegung, doch in der weißen evangelikalen Welt sind solche Glaubensansichten eher Mainstream. 57 Prozent der weißen Evangelikalen leben nach einer kürzlichen Untersuchung des Public Religion Research Institute in Haushalten mit einer Schusswaffe.Ex-Polizist DornerSeit Newtown arbeiten nun auch die einzelnen Bundesstaaten an ihren Schusswaffengesetzen. In manchen, wie in New York, wurden die Vorschriften verschärft – in anderen sollen sie gelockert werden. Sein Verein werde sich nie überall durchsetzen, räumt Pratt ein, aber er habe die Hoffnung, dass sich viele Einwanderer zusehends auf die Seite der Schusswaffenrechtler schlagen würden. Die hätten doch in ihren Heimatländern staatliche Willkür erfahren. Auf jeden Fall sei es wichtig, dass die Obama-Regierung daran gehindert werde, der Gesamtbevölkerung „verfassungswidrige Reformen“ aufzuzwingen. Pratt glaubt an die seiner Ansicht nach zahlreichen örtlichen Sheriffs, die sich widersetzen würden. Pratt erläutert, wie das aussehen könnte. Das Beispiel habe nicht direkt etwas zu tun mit Schusswaffen, doch allgemein mit der Machtanmaßung der Regierung: Die US-Lebensmittelbehörde FDA habe kürzlich in Elkhart (Indiana) einen Bauern daran hindern wollen, seine rohe Milch zu verkaufen, aus irgendwelchen Gesundheitsgründen. Sheriff Brad Rogers habe der FDA mitgeteilt, er werde ihre Leute verhaften, sollten sie gegen den Willen des Bauern auf dessen Hof kommen.Der Sheriffsverband von Utah hat im Januar an Präsident Obama geschrieben: Die Sheriffs seien „bereit, ihr Leben hinzugeben“ zur Verteidigung des zweiten Verfassungszusatzes. Kein Regierungsvertreter werde nach Utah kommen dürfen, um den Bürgern das Schusswaffenrecht wegzunehmen. Mehrere Bundesstaaten debattieren so genannte Schusswaffen-Freiheitsgesetze, die es lokalen Behörden verbieten würden, der US-Bundesregierung beim Durchsetzen von Schusswaffenkontrollgesetzen beizustehen. Ob er sich ernsthaft vorstellen könne, dass sich bewaffnete Bürger – mit oder ohne Hilfe vom Sheriff – tatsächlich vor vermeintlichen Übergriffen der Regierung schützen könnten, die doch praktisch unbegrenzt Waffengewalt zur Verfügung habe? Antwort Pratt: Er denke an den Ex-Polizisten Christopher Dorner, der in Kalifornien Mitte Februar nach zwei Morden mehrere Tage der Polizei getrotzt habe. Natürlich wolle er Dorner nicht zum Helden erklären. Natürlich.
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