„Nur mal so auf einen kurzen Plausch“

Hegelplatz 1 War nicht alles schlecht in der DDR. Vor allem die Nachbarschaft
Ausgabe 19/2018
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Foto: NBL Bildarchiv/Imago

Doch, doch, war nicht alles schlecht in der DDR. Es gab keine Gentrifizierung, die soziale „Durchmischung“ in den Vierteln und Häusern war grandios und Gold wert. Zusammensein mit Menschen aus allen „Schichten“ kann die soziale Kompetenz ungemein prägen. Und: Man lernt fürs Leben. In dem Haus in Berlin, in dem ich meine erste offizielle Wohnung hatte – eine andere hatte ich besetzt –, wohnten eine Handwerkerfamilie mit Zwillingen, eine Chemikerin mit ihrem Freund, im Hinterhaus ein Musiker mit seiner schwangeren Frau und dem ersten Kind. Es gab ein Lehrerehepaar und ein älteres Pärchen: er bei der Polizei, sie Angestellte beim Rat des Stadtbezirks. Rechts neben mir wohnte eine Laborantin mit ihrer Tochter aus erster Ehe, dem aktuellen Mann und dem gemeinsamen Sohn. Und links neben mir, nun ja, bildungsferne Mitmenschen, wie man heute sagen würde.

Die Nachbarn zur Linken führten das Hausbuch, legten den Reinigungsplan fürs Haus fest und klingelten dann und wann bei dem einen oder der anderen, „nur mal so auf einen kurzen Plausch“, wie sie meinten. Sie wussten ziemlich viel über die Lebensumstände und Alltagsgewohnheiten der gesamten Bewohnerschaft. Auch ohne dass sie diejenigen, über die sie etwas Neues herausgekriegt hatten, gefragt hätten. Der Mann war der Hausmeister unserer Mietskaserne, die Frau arbeitete offiziell im Fischladen am Ende der Straße, und inoffiziell, na lassen wir das.

Noch besser kannten sich die beiden mit geistigen Getränken aus. Um nicht zu sagen, sie soffen, was das Zeug hielt. Insbesondere am Monatsanfang, wenn das Geld noch nicht knapp war. Später in der Nacht stritten sie, häufig bis zum Morgengrauen, dazwischen ihr Hund, der nicht aufhörte zu bellen. Mein Schlafzimmer lag direkt neben ihrem Wohnzimmer, die Wände waren dünn, und immer öfter fiel einer von beiden mitten in der Nacht einfach um. Dann polterte es kurz, danach war Ruhe.

Manchmal fand ich ihn morgens, wenn ich das Haus verließ, vor meiner Wohnungstür, er schnarchte und brubbelte was von „einfach liegen lassen“. Sie sammelte ich hin und wieder von der Treppe auf und schleppte sie hoch bis in den vierten Stock. Er stand in der Tür und kraulte das Hündchen.

Wenn die beiden weinselig waren, erzählten sie mir, wer gerade Westbesuch hat und dass bei der „Schlampe aus’m Seitenflügel“ schon wieder ein Neuer „einfach über Nacht bleibt“. Hin und wieder griff mein Nachbar in seine Kiste mit Alltagsweisheiten und kramte Sätze hervor wie diesen: „Leben kann sein wie et will, aba et jibt eine wischtje Regel: Pflastersteine nie so verlegen, det man in Rischtung der Fluchtlinien läuft. Macht nämlich irre.“

Da hatte er recht. Achten Sie mal drauf.

Hegelplatz 1. Unter dieser Adresse können Sie den Freitag in Berlin erreichen – und ab sofort wir Sie. An dieser Stelle schreiben wöchentlich Simone Schmollack, Michael Angele und Jakob Augstein im Wechsel. Worüber? Lesen Sie selbst

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Geschrieben von

Simone Schmollack

Chefredakteurin der Freitag

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