Nur Musik

Kehrseite I Der Raum ist weiß und kahl. Tag für Tag liegt er dort in diesem Zimmer. Nur der Bettnachbar gegenüber ändert sich von Zeit zu Zeit. Der Erste wird ...

Der Raum ist weiß und kahl. Tag für Tag liegt er dort in diesem Zimmer. Nur der Bettnachbar gegenüber ändert sich von Zeit zu Zeit. Der Erste wird entlassen, der Nächste sofort hereingeschoben auf einem Bett, das seinem gleicht.

Alles ist gleich, selbst die Gebrechen.

Lange liegt er, kann nur liegen. Mühsam dreht er seinen Bauch nach links zur Wand, dann wieder rechts und zurück auf den Rücken, den Blick an die Decke gerichtet. Langsam hebt er den Kopf und blinzelt zu seinem Nachbarn hinüber, der stöhnt.

Nachmittags zieht die Sonne vor die großen Fenster. Die Strahlen dringen durch schmale Schlitze der Jalousie. In dünnen schimmernden Streifen wandern sie die nackte Wand entlang und fließen über die Bettdecke. An seinen Schläfen kleben Haarsträhnen.

Neben dem Bett steht ein kleiner Tisch. Mühevoll beugt er sich hinüber und schaltet das Radio ein. Es knackt, surrt leise, dann ertönt Musik. Die linke Hand begleitet den Rhythmus. Als ein Nachrichtensprecher versucht, seinen Text zu verlesen, dreht er an dem Sendeknopf. Das will er nicht hören. Die einzige Verbindung zur Welt, zu dem was außerhalb des Zimmers geschieht, kann er durch diesen Knopf regulieren, und er will nicht wissen, was den Schrecken draußen begleitet. Er kann ihn abdrehen. Hier, in dem leeren Zimmer, in dem genug Schrecken liegt. Nur Musik ist erträglich. Musik, die leicht hinweg gleitet und weiter schwebt.

In der Nacht stöhnt der andere, lauter als tags. Das Stöhnen reißt ihn aus der Dunkelheit, lässt ihn nicht schlafen. Am Morgen liegt ihm die Müdigkeit fest um die Augen, in den Knochen und Muskeln der Beine, die sich immer noch nicht recht bewegen wollen. Er beugt sich zu dem kleinen Tisch hinüber, schaltet das Radio ein. Musik krabbelt in seine Ohren. Er schließt die Augen.

Seine linke Armbeuge ist zerstochen. Jetzt blau und gelb angelaufen. Er dreht am Knopf mit diesem Arm, der ihm nicht immer gehorcht, der sich gerne sträubt. Eine Schwester kommt herein, schnell. Sticht dieses Mal in einen Finger, will den Arm nicht mehr, will die Fingerspitzen für Mininadeln. Im Radio kommen die Nachrichten, doch jetzt kann er den Knopf nicht drehen.

Nur Musik kann helfen. Wenn sie im Radio Musik spielen, dann schließt er die Augen, ist weit weg im Irgendwo, nicht mehr in diesem Zimmer und das Stöhnen des Anderen zerfließt in den Tönen, verschwindet im Klang.

Es ist das Einzige was ablenkt, ihn in eine andere Welt bringt, die Musik. Dafür lohnt es sich Tag für Tag, den Arm zu zwingen, den Sendeknopf zu drehen.

Simone Rothweiler, 1969 in Überlingen/Bodensee geboren, arbeitet im Kulturmanagment und schreibt an ihrem zweiten Roman.


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