„Ich werde dich umbringen!“, schreit mich der Polizist auf Türkisch an, „wenn du nicht die Wahrheit sagst.“ Ich spüre seine Pistole auf meiner schwitzenden Stirn. Er entsichert die Waffe. Ich höre, wie das Schlagstück klickt und einspannt. Die Augenbrauen hat er zusammengezogen und starrt mich wütend an. Offenbar meint er es ernst.
Unvermittelt sage ich ihm: „Ich bin deutscher Staatsbürger – schießen Sie!“ Ein Kopfschuss käme einer Exekution gleich. Der Polizist würde damit nicht nur mein Leben beenden, sondern auch seine Karriere. Ein Kopfschuss aus nächster Nähe wäre selbst durch die absurdeste Geschichte nicht zu erklären. Es würden sich zu viele Fragen stellen. Wie ist ein deutscher Student in den gepanzerten Wagen gekommen, und warum schießt ihm ein türkischer Polizist dort in den Kopf? Warum war kein zweiter Beamter im Wagen?
Ich balle meine Fäuste und atme tief durch. Mein Herz schlägt schneller, lauter. Ich denke an nichts. Er beginnt zu zählen: „Eins ... zwei ...“ Ich schließe meine Augen. „Drei.“ Er holt weit aus und schlägt mir ins Gesicht. Ich höre nur noch ein Rauschen im Ohr.
Stunden zuvor saß ich in einem Büro und räumte meinen Rucksack leer. Notizen aus alten Recherchen wurden verbrannt, Daten auf Speicherkarten gelöscht. Ich wusste aus Gesprächen mit politisch Verfolgten, dass die türkische Polizei jeden kleinen Fund als Beweisstück verwenden kann. Reporter ohne Grenzen hatte gerade die Türkei als das weltweit größte Gefängnis für Journalisten bezeichnet. Laut der Nichtregierungsorganisation saßen Ende vergangenen Jahres 60 einheimische Journalisten im Gefängnis – zwei Drittel der Inhaftierten hatten über kurdische Themen geschrieben und mussten dafür büßen. Tayyip Erdoğan hat Journalisten oft als Provokateure oder Spione geschmäht, die dem Ansehen der Türkei nur schaden wollten.
Fixer weichen Besetzern
Es gibt in diesem Land drei Arten von Journalisten: Solche, die berichten, was die Regierung hören will; kritische Reporter, die sich aber aus Angst selbst zensieren; und solche, die ihre Kritik frei äußern. Deren Zahl schwindet. Ihre Zeit kann man herunterzählen wie auf einer Stoppuhr. Entweder werden sie entlassen und zu hohen Geldstrafen verurteilt oder eingesperrt oder auf offener Straße erschossen, wie im Fall des armenischen Autors Hrant Dink. Was gilt für mich? Ich bin ein junger Journalist und Kurde, kritisiere die AKP-Regierung des Präsidenten Erdoğan und recherchiere viel zu kurdischen Themen. Das heißt, ich bin bei der Guerilla aus den Camps der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak gewesen, habe mit Flüchtlingen in der kurdischen Region Rojava in Nordsyrien gesprochen und in der Osttürkei bei Schmugglern übernachtet.
Allein meine deutsche Staatsbürgerschaft hat mich bisher davor bewahrt, in einem türkischen Gefängnis zu verschwinden, aber sie kann mich nicht vor Repressalien, Schlägen, tagelangen Verhören und Drohungen schützen. Dennoch war ich stets überzeugt, dir kann nichts oder zumindest nicht viel passieren.
In dieser Gewissheit machte ich mich auf den Weg nach Sur, einem Stadtteil in der südanatolischen Großstadt Diyarbakır. Dort hatte die YDG-H, eine militante kurdische Jugendorganisation, ein Viertel besetzt und den „Kurdischen Kanton Sur“ ausgerufen. Ich wusste, dass die Jugendlichen bewaffnet waren, sich verbarrikadiert und sogar Gräben um ihre Domäne ausgehoben hatten. Polizisten und Soldaten war jeder Zutritt verwehrt. Ich wollte die etwa 30 Besetzer von Sur treffen und sie für ein Magazin porträtieren.
Dazu muss man wissen, Sur gehört zu den ärmsten Gegenden Diyarbakırs. Normalerweise fixen an der historischen Mauer oder in den Gassen Drogenabhängige am helllichten Tag. Gerüchten zufolge hatten ihnen nun jedoch die militanten kurdischen Aktivisten verboten, ihren Drogenhandel auf offener Straße zu betreiben. Ob das der Wahrheit entsprach, ließ sich nicht überprüfen.
Ich jedenfalls sah bei meinem Gang durch das nächtliche Sur keinen Menschen, nur streunende Katzen. Spärlich beleuchteten Laternen das Pflaster, manche Straßenzüge lagen in undurchdringlicher Finsternis. Es roch nach Abfall und Kloake. Gerade weil das Viertel so elend und heruntergekommen ist, kam es hier in der Vergangenheit häufig zu Protesten gegen die Regierung oder zu Straßenkämpfen militanter Kurden gegen die Polizei. Neben dem Bezirk Bağlar galt Sur stets als Hochburg des Widerstandes in Diyarbakır.
Schläge und Beschimpfungen
Als die Kämpfe mit den Milizen des Islamischen Staates (IS) um das nordsyrische Kobanê vor Wochen begannen, reagierte die YDG-H in Diyarbakır darauf, indem ihre Aktivisten Verwaltungsgebäude stürmten, Straßen blockierten und dann Sur besetzten. Es war die Antwort an eine Regierung, die mit dem IS kollaboriert haben soll, um die kurdische Autonomie in der Region Rojava zu zerstören. Mit dieser Selbstverwaltung fühlte sich die YDG-H eng verbunden – die Kurden hier wie dort haben den inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan als ihren Führer anerkannt.
In Diyarbakır waren im Oktober bei Straßenkämpfen fast 40 Menschen getötet worden. Erstmals seit den achtziger Jahren wurde wieder eine Ausgangssperre über mehrere Provinzen in Südostanatolien verhängt. In Sur allerdings konnte sie nicht durchgesetzt werden, dort zogen junge Kurden durch die Straßen, schwangen PKK-Fahnen und feierten ihre Autonomie – darüber wollte ich berichten.
Als ich ankam, war von Feierstimmung nichts mehr zu spüren. Hubschrauber überflogen die Häuser. Ich ignorierte das und durchquerte enge Gassen. Mit dicker roter Farbe war an Hauswänden zu lesen: „Das ist Sur, ein befreiter Kanton.“ Plötzlich lief mir eine ältere Frau geduckt entgegen und rief: „Mein Junge, da sind Polizisten! Hau schnell ab.“ Zögernd kehrte ich um und dachte zugleich, wenn ich jetzt kneife, werde ich eine Chance vergeben. Also blieb ich auf meinem bisherigen Weg durchs Viertel. Kam aber nicht mehr weit. Acht bis zehn Polizisten rannten in kugelsicheren Westen auf mich zu und leuchteten mir ins Gesicht. „Stehen bleiben!“ Verdammt, ich hatte mein Glück ausgereizt.
Ein kräftiger Polizist fragte, was ich in Sur zu suchen hätte. „Ich will einen Freund besuchen. Ich bin Student, reise in der Türkei herum und schreibe eine wissenschaftliche Arbeit.“ „Du lügst!“, brüllte der Polizist und packte mich am Arm. Wir bogen um eine Ecke, hinter der vier Jugendliche festgehalten wurden. Einer drehte den Kopf und schaute mich an. Wir erkannten uns. Während meiner bisherigen Recherchen hatte ich ihn als einen der kurdischen Militanten kennengelernt. Ich biss mir auf die Unterlippe. Minuten später durften sie gehen. Harmlose Jungs aus dem Viertel, glaubte die Polizei.
Mich stießen sie in ihren gepanzerten Wagen. Ein Beamter schlug mit der Faust auf meine Brust. Ich bekam keine Luft mehr und versuchte, weiter zu atmen und mich zu beruhigen. Der Polizist schlug erneut zu. „Du lügst uns an, du willst in den Irak und nach Syrien. Du bist ein Terrorist, du dreckiger Kurde! Sag, wohin du willst, sonst werde ich deine ganze versiffte Familie töten.“ Er wedelte mit einem 250-Pfund-Schein vor meiner Nase herum. 250 syrische Pfund, die sie in meinem Rucksack gefunden hatten, ebenso meinen Pass mit irakischen Einreise- und Ausreisestempeln Das machte mich so verdächtig, dass mir ein Polizist seine Pistole an den Kopf hielt und entsicherte.
Das Rauschen im Ohr hörte auf. In einem Streifenwagen fuhren sie mich ins Revier. Dort begann das Verhör sofort. „Versaue dir nicht dein Leben wegen dieser Terroristen. Wir stecken dich sechs Jahre ins Gefängnis, wenn wir wollen – was machst du dann?“ Zwischendurch hörte ich Satzfetzen im Polizeifunk, den sie nicht abgeschaltet hatten In Teilen von Diyarbakır führe die Polizei „Operationen“ durch, hieß es. „Weißt du denn nicht, dass vor knapp drei Wochen fünf deutsche Journalisten festgenommen wurden?“ Ich wusste es genau, ich kannte sie persönlich. Genau deswegen beteuerte ich von Neuem: „Ich bin Student und einfach auf Reisen.“ Die Stimme des Vernehmers wurde härter: „Dann versauere im Knast, du Hund.“
In der Zelle verlor ich jedes Zeitgefühl. Meine Gedanken kreisten nur noch um die eine Frage: Hatte ich die Speicherkarte sauber gelöscht? Wochen zuvor hatte ich Kämpfer der PKK in den Kandil-Bergen fotografiert. Sollten meine Bewacher nur ein einziges Bild finden, würde das für eine Anzeige, verschärfte Verhöre und monatelange Untersuchungshaft reichen.
Dann stand der Polizist von der ersten Vernehmung wieder vor mir. Er schnaufte, fluchte, schob den Kopf nach vorn. Sein rauchender Kollege zeigte mit dem Finger nach oben: „Du weißt, die Überwachungskamera läuft. Sei vorsichtig.“ Zwei Stunden verhörten sie mich, ohne dass ich auch nur ein Wort sagte. Ich hörte jemanden „Deutscher“ sagen, mein Name fiel. Nach einer Unterschrift, dass ich meinen Besitz vollständig zurückbekommen hätte und keinen Arzt bräuchte, der mich untersucht, ließen sie mich schließlich gehen.
Ein junger Polizist, nicht älter als Mitte 20, begleitet mich nach draußen. Auf der Straße vor der Polizeiwache sagt er: „Du wirkst naiv, aber du bist nicht naiv. Das spüre ich. Sollte ich Recht haben, werde ich dich finden.“
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