Nur sozialistische Konkurrenz kann die SPD noch in Bewegung bringen

PETER VON OERTZEN ÜBER DIE ZUKUNFT LINKER IDEEN UND BEWEGUNG Wo entsteht heute antikapitalistische Theorie?

Das ist eine Art Abschied von der SPD. In dem Gespräch mit Wolfgang Michal charakterisiert Peter von Oertzen (langjähriges Bundesvorstandsmitglied) erbarmungslos Lafontaine ("war und ist kein Linker"), Hombach ("als Theoretiker eine Null"), Scharping ("nach dem Ministerpräsidentenposten in Rheinland-Pfalz war jeder weitere Schritt ein Schritt in die absolute Inkompetenz"), die Grünen und die PDS. Er sagt auch, was er aus der linken Szene in ihren verschiedenen Facetten an Theoriebildung erwartet, von Robert Kurz über Kreise um konkret, Argument, prokla. Hoffnung liegt in der "community von theoretischen, links argumentierenden Intellektuellen quer über den Erdball".

Wir bringen mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Tiamat drei kurze Abschnitte aus dem langen Gespräch, das in diesen Tagen im Rahmen eines Buchs erscheint.

Welche Zirkel oder Kreise könnten als Plattform für eine neue Theoriebildung fungieren - das Forum Gewerkschaften, die Frankfurter Linke?

Peter von Oertzen: Von der Sozialdemokratie als organisatorischer Form theoretischer Bemühung erwarte ich mir nichts. Und ich sage mit äußerstem Nachdruck: wirklich überhaupt nichts. Das heißt nicht, dass es nicht eine Menge Sozialdemokraten gäbe, mit denen theoretisch zu diskutieren im höchsten Grade fruchtbar wäre, aber die organisatorische Form für solche Diskurse kann nicht mehr die SPD sein. Der Kampf um die nächstmögliche parlamentarische Mehrheit, der Kampf um die Sicherung oder Wiedergewinnung von Regierungsmacht überwältigt jedes theoretische Argument. Das heißt, die SPD ist absolut außerstande, mit den weiter- und tieferreichenden Problemen des Kapitalismus fertig zu werden. Kurzfristige Probleme können durch pragmatische Intervention wohl bewältigt werden, aber die eigentlichen Strukturprobleme bleiben ungelöst. Früher hat man sich in Krisen wenigstens noch bemüht, die Wirklichkeit theoretisch zu durchdringen. Das ist heute unerwünscht.

Gab es denn zu Zeiten früherer SPD-Regierungen - 1919, 1928, 1969 - jemals einen Ansatz zu systemüberwindenden Reformen?

Ich mache gelegentlich das Gedankenexperiment, was sich wohl in Westeuropa zwischen 1929 und 1938 abgespielt hätte, wenn die Arbeiterbewegung nicht durch die unselige Spaltung in einen von der Sowjetunion abhängigen, unfruchtbaren revolutionären Teil und einen an die bürgerliche Demokratie geketteten, ebenso unfruchtbaren sozialdemokratischen Teil paralysiert worden wäre; wenn es also eine breite revolutionär-sozialistische, nicht-leninistische, originär westeuropäische Strömung - wie zwischen 1918 und 1920 - gegeben hätte. Ob die Arbeiterbewegung dann nicht in der Lage gewesen wäre, aus der großen Krise heraus, bei unbedingtem Festhalten an den Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie, eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln?

Wie sehen Sie die Möglichkeiten heute?

Heute ist es so: Die SPD ist überhaupt nur noch in Bewegung zu setzen, wenn neben ihr eine programmatisch seriöse, in der Gesellschaft verwurzelte linkssozialistische Partei steht, die die Sozialdemokratie bei Abweichung von ihren Reformzielen sofort mit schwersten Wählerverlusten bestraft. Konkurrenz von außen ist das einzige verbleibende Mittel, Einfluss auf die SPD auszuüben. Eine solche Situation würde die an Strukturreformen interessierten Elemente der Sozialdemokratie aus der babylonischen Gefangenschaft des nächsten Wahlerfolgs oder der zurückliegenden Wahlniederlage befreien.

Lionel Jospin, der Chef der französischen Sozialisten, hat gefordert, die Linke möge die marxistische Methodologie als Instrument der Analyse kapitalistischer Realität wiederentdecken. Wer könnte einen solchen Satz in der SPD sprechen?

Niemand. Theoretische Bemühungen dieser Art können heute nur in völliger Unabhängigkeit von SPD, Gewerkschaften oder Stiftungen stattfinden. Wenn es gelänge, dafür eine Plattform und einen ausreichenden materiellen Rahmen zu schaffen, wären viele, die das sozialdemokratische Parteibuch in der Tasche tragen, mit von der Partie.

In einem Beitrag für den "Rheinischen Merkur" prophezeien Sie der SPD eine Abspaltung.

Ich habe zweierlei gesagt. Erstens, dass die Barriere gegenüber der PDS bröckelt. Zweitens: Wenn sich die Partei weiter so entwickelt, wie sie sich entwickelt, besteht die Möglichkeit, dass links von ihr eine neue politische Formation entsteht.

Warum haben Sie das ausgerechnet im "Rheinischen Merkur" geschrieben?

Weil mich die Zeit nicht nach der Zukunft der Linken gefragt hat.

Wäre es denkbar, dass sich diese Linke vorübergehend auf zwei Parteien verteilt, auf eine Mehrheits- und eine Minderheitssozialdemokratie? Auf SPD und PDS?

Das wäre die denkbar schlechteste Lösung. Eine Sozialdemokratie reicht. Wenn sich die PDS zu einer zweiten SPD entwickelt, würde das zwar manche Schlacken ihrer marxistisch-leninistischen Vergangenheit über Bord spülen, aber das wäre kein Fortschritt. Die Aussage führender Sozialdemokraten, dass an einer zweiten Sozialdemokratie kein Bedarf sei, ist objektiv und erweislich wahr. Warum sollten drei, vier oder fünf Prozent der Wähler, so groß wäre das Potenzial, eine linksgewirkte Variante der SPD wählen? Die PDS hätte nur eine Chance als authentische linkssozialistische Partei. Es sieht aber nicht so aus, als ob die PDS die Absicht hätte, sich zu einer solchen zu entwickeln. Gysi ist ein Opportunist mit festen moralischen Überzeugungen, aber bar jeden politischen Konzepts. Bisky ist ein freundlicher Traditionssozialdemokrat, und die Brüder Brie sind klassische, durch den Marxismus-Leninismus der DDR verschreckte und in die Enge getriebene Intellektuelle, die vor lauter Entsetzen über das marxistische Zerrbild, das ihnen begegnet ist, angefangen haben, Marx selbst über Bord zu werfen. Und die, die ihnen in der PDS widersprechen, sind Leute, die vom alten Marxismus-Leninismus noch nicht genug über Bord geworfen haben. Von Michael Benjamin kann man Erneuerungssprünge nicht erwarten. Und mein lieber Freund Uwe Jens Heuer, der schon in der alten DDR opponierte, ist ein authentischer linker Sozialdemokrat mit hinreichend solider Kenntnis des Marxismus. Bleibt Winfried Wolf, der mit seiner Position genauso in einer extrem kleinen Minderheit verharrt, wie er in der SPD in der Minderheit gewesen wäre. Diese ehrbaren Kritiker, die den Kurs der Gysi-Bisky-Brie Co. KG kritisieren, haben wenig zu bieten. Was sie den Parteiführern entgegensetzen, ist weitgehend marxistischer Traditionalismus. Insgesamt eine unproduktive Frontstellung; die PDS ist außerstande, eine authentische linkssozialistische Partei zu werden, es sei denn, in den alten Bundesländern entwickelte sich eine solche Strömung.

Woraus könnte sich eine authentische Linke denn bilden?

Seit einigen Jahren verfolge ich mit Interesse den seit 1917 erstmals wieder unternommenen Versuch, so etwas wie eine politische Tendenz im Deutschen Gewerkschaftsbund zu bilden. Ich kann nur hoffen, dass es weder der PDS noch der linken Sozialdemokratie gelingt, diese Tendenz zu vereinnahmen. Dabei setze ich auf die Ungebärdigkeit der gewerkschaftlichen Basis. Wenn die PDS-Führer mit solchen Leuten zusammenstoßen, werden sie vor Entsetzen rückwärts zur Tür hinausgehen. Die haben ja noch nie einen linksradikalen Betriebsrat in einem westdeutschen Großunternehmen in natura erlebt. Für diese Gewerkschaftslinke ist Brie ein Revisionist und Opportunist.

Klingt etwas verbalradikal.

Natürlich besteht die Gefahr, dass eine authentische Linke dem ultraradikalen Ouvrierismus verfällt, einer reinen Widerstandshaltung, die sich damit begnügt, Sand ins Getriebe zu schütten, bedrängten Kollegen zu helfen und dem Management das Leben so schwer wie möglich zu machen. Das ist höchst ehrenwert, hat aber keine Perspektive. Das ist praktischer Arbeiteranarchismus.

Im November trafen sich die "regierenden Sozialdemokraten" Clinton, Blair, Jospin, Schröder, D'Alema und Cardoso in Florenz und diskutierten die Probleme des 21. Jahrhunderts. Wenn diese Männer die Sozialdemokratie der Zukunft darstellen, klafft links eine gigantische Lücke...

Und ob. In Skandinavien wird diese Lücke durch die linkssozialistischen Parteien ausgefüllt, in Frankreich durch eine halbwegs aktionsfähige Linke in der PS und durch zwei trotzkistische Strömungen, die bei der Europawahl zusammen über fünf Prozent kamen, in Italien durch die Fraktionen der Rifondazione Comunista, in Spanien durch die IU, die Izquierda Unida. Also, warum soll es in Deutschland nicht geben, was in allen westlich-kapitalistischen Ländern seit Jahrzehnten existiert.

Wenn ich Sie richtig interpretiere, fürchten Sie am meisten, dass eine klassische linke Abspaltung von der SPD das zarte Pflänzchen einer basisdemokratischen Bewegung im Keim ersticken könnte.

Eine USPD, die eine bessere SPD sein will, wäre in der Tat kontraproduktiv. Eine Bewegung dagegen, in der viele Einzelne, die mal in der Sozialdemokratie waren, mitarbeiten, hätte meine Zustimmung.

Was könnte der gemeinsame Nenner einer authentischen Linkspartei sein? Sind das Leute, deren Kompetenz in Politik, Beruf und Freizeit nicht erwünscht ist? Die ihre Angelegenheiten selber regeln wollen? Die nach mehr Einflussmöglichkeiten verlangen, aber von dieser Regierung nicht bekommen?

Das trifft vollständig zu. Wenn es dieses Potenzial nicht gäbe, müsste ich verzweifeln.

Das Gespräch führte Wolfgang Michal

Wolfgang Michal lebt als freier Publizist in Hamburg. Früher war er Redakteur beim Vorwärts, 1995 erschien sein Buch Deutschland und der nächste Krieg.
Peter von Oertzen, Meine Regierung. Vom Elend der Politik und von der Politik des Elends. Rotgrün zwischen Mittelmaß und Wahn. Tiamat Berlin 2000, 208 Seiten. DM 28.-

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