Nürnberger Aidspatienten

Arbeitsfähig gestempelt, abgeschoben Um ihre Sozialhilfekarteien zu bereinigen, ist den Kommunen jedes Mittel recht - und doch bleibt Clement der Meister manipulativer Energie

Ackermann hat Recht. Finanzieller Erfolg ist kein Zufall, sondern eine Frage des Ertragswinkels. Der soll für die Kunden steigen, vor allem aber für die Deutsche Bank selbst, und deshalb müssen Tausende Mitarbeiter aus den Gehaltslisten verschwinden. Das eigene Unternehmen stärken und die Statistik bereinigen - ein schönes Vorbild für Wolfgang Clement. Der Wirtschaftsminister wird von den höchsten Arbeitslosenzahlen der deutschen Nachkriegsgeschichte geplagt und sieht - nach ungeplanten Mehrkosten von 6,4 Milliarden Euro - die politische Rendite von Hartz IV gefährdet. Die ausufernde Zahl von ALG II-Empfängern muss eingedämmt werden. Was soll er denn auch tun, wenn massenhaft Komapatienten, rüstige Rentner über 80, Suchtkranke, Schüler, Obdachlose und sogar AIDS-Kranke von den Kommunen als erwerbsfähig eingestuft wurden?

Seit der Faulenzer-Debatte, seit "Florida-Rolf", dem sonnengebräunten König bundesdeutscher Arbeitsverweigerer, weiß Clement, dass er bei Entrüstungskampagnen auf Bild und andere standortrettende Medien zählen kann. Pünktlich vor dem Klärungsgespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden häufen sich also wieder spektakuläre Präsentationen abgründigen Verhaltens. Der Fall ist klar: Alle Leistungsbescheide sind nochmals zu überprüfen. Clement droht den Kommunen bereits, in diesem Jahr 2,5 Milliarden Euro weniger als zugesagt zu überweisen.

Wenn die Massenarbeitslosigkeit für die Betroffenen nicht so existenziell wäre, könnte man die Entrüstungs- und Argumentationsrituale als Teil der heute gängigen Comedykultur begreifen. Dass Städtetag und Gemeindebund ihre Kommunen angesichts so vieler "Falschbuchungen" frei von jeder Schuld sehen, mag glauben, wer will. Arbeitsfähig stempeln und dann in die Verantwortung der Bundesagentur für Arbeit abschieben - dieses verführerisch einfache Verfahren wurde von manchen Städten so intensiv genutzt, dass nur noch zehn Prozent der Sozialhilfekarteien übrig geblieben sind. Nicht nur Clement, auch die Bürgermeister kennen die Tricks des Leistungsrechts.

Zur Erinnerung: Die Fusion von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum ALG II sollte jene Verschiebebahnhöfe zwischen Arbeitsämtern und Kommunen beseitigen, die nun in neuer Form wieder entstehen. Früher beschäftigten "pfiffige" Sozialdezernenten arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger so lange, bis sie wieder einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben hatten, und Arbeitsämter ließen eben diese "Kunden" ohne Beratung, damit sie alsbald wieder zurückrutschten. Neue Leistungsansprüche gibt es nun mit Hartz IV zwar nicht mehr, weil ALG II-Empfängern nur Arbeitsgelegenheiten, nicht normale Arbeitsverhältnisse zugewiesen werden. Dass damit jedoch der Schacher beendet sein würde, konnte ernsthaft niemand glauben. Nicht der Erwerb oder Verfall von gesetzlichen Ansprüchen, sondern die individuelle Einstufung ist nun zum umkämpften Terrain geworden. Als offiziell erwerbsfähig gilt seit Jahresbeginn jeder zwischen 15 und 65 Jahren, der mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten kann. Für kreative Bürokraten ist diese scheinbar strikte Grenze ein dehnbarer Begriff.

Auch wenn die Praxis vieler Kommunen widerwärtig ist, so bleibt doch Clement der Meister manipulativer Energie. Aus dem Munde des Chefs der Nürnberger Bundesagentur ließ er verkünden, woran man im Wirtschaftsministerium schon lange arbeitet: Langzeitarbeitslose über 55, vor allem in Ostdeutschland, sollen durch einen minimalen Aufschlag auf ihr ALG II dazu ermuntert werden, der eigenen Altersrente außerhalb der Arbeitslosenstatistik entgegenzudämmern. Man darf gespannt sein, unter welch klingenden Namen dieses neue Instrument des "Aufbau Ost" demnächst seine Premiere erleben wird.

Eine andere Uraufführung können wir bereits jetzt bestaunen. Um Schreckensmeldungen zu relativieren, verkünden die Statistiker auf Wunsch der Bundesregierung fortan in jedem Monat nicht nur die in Deutschland üblichen, sondern zusätzlich auch die bereinigten Arbeitslosenquoten nach dem Konzept der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Jeder, der im vorangegangenen Monat mindestens eine Stunde gearbeitet hat, gilt nach dem ILO-Konzept als nicht arbeitslos. Mit dieser Definition hätte Clement auf einen Schlag 600.000 Arbeitslose weniger. Wenn es ihm gelingt, die neue Zählweise künftig Stück für Stück in den Mittelpunkt zu rücken, braucht er sich über die "arbeitsfähigen" Komapatienten nicht mehr aufzuregen.


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