Noch dauern die Ermittlungen an. Bislang beruht der Vorwurf, dass 70 Prozent der gebuchten Vermittlungen fehlerhaft seien, nur auf einer Stichprobe bei fünf der insgesamt 181 Arbeitsämtern. Weitere zehn Ämter werden zur Zeit von der Innenrevision geprüft und ab April soll der Bundesrechnungshof zusätzlich 20 Ämter durchleuchten. Obwohl also viele Fragen noch nicht zu beantworten sind, steht längst fest: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der von der Bundesanstalt für Arbeit vorgelegten Statistik besteht aus Seifenblasen. So wies man in den Jahren 2000 und 2001 bundesweit jeweils fast 3,8 Millionen Vermittlungen aus. Demnach hätte jeder Arbeitsvermittler mehr als 400 Jobs pro Jahr vermittelt - ein wahnsinniger Erfolg bei durchschnittlich elf Be
Beratungsgesprächen pro Vermittler und Tag. Auch im schwierigen Januar 2002 waren es schon wieder fast 220.000 Vermittlungen, eine Summe, die mit den vorhandenen Arbeitsvermittlern und ihrem durchschnittlichen Karteibestand von etwa 600 Arbeitssuchenden aus eigenen Kräften gar nicht zu schaffen ist. Die Gründe für das Nürnberger Desaster liegen zunächst in der Behörde selbst, wenngleich im Detail durchaus zwischen willkürlichen Luftbuchungen und den Konsequenzen einer fahrlässigen Organisation zu unterscheiden ist. Gegenstandslose Scheinvermittlungen wurden medienwirksam vorgeführt, indem Arbeitsvermittler am Computerbildschirm nicht nur offene Stellen virtuell erzeugen, sondern gleich darauf mit virtuellen Arbeitslosen besetzen können und damit den kreativen Spielraum aufzeigen, den die von der Bundesregierung propagierte Vermittlungsoffensive enthält. Die Aufforderung, flexibel zu vermitteln, wurde offensichtlich im Sinne einer modernen Version kafkaesker Behördenwillkür interpretiert. Daneben gibt es bereits seit längerem systematische Versäumnisse bei der internen Organisation der Behörde. Blamiert hat sich vor allem die Idee des Gesetzgebers, Heerscharen weitgehend verbeamteter Gutmenschen würden allein aus Pflichtgefühl unbestechliche Agenten des Arbeitsmarktes seien. Nur so ist es zu erklären, dass es offenbar keinerlei interne Qualitätssicherung gibt und kein systematischer Abgleich interner Statistiken erfolgt, mit dem man Phantasiebuchungen schon längst hätte bemerken müssen. Offensichtlich war auch das bereits vor einigen Jahren begonnene Reformprojekt "Arbeitsamt 2000" zu einseitig auf die Zusammenführung der zuvor bis ins Absurde zergliederten Teilzuständigkeiten der leistungsrechtlichen und der vermittelnden Abteilungen konzentriert. Auch wenn alle Arbeitsämter bis Ende 2004, wie geplant, nach diesem Modell durchorganisiert sein sollten - Impulse für eine bessere Vermittlung ergeben sich daraus bestenfalls indirekt. Doch selbst bei den einigermaßen korrekten Buchungen lässt die sogenannte Abgangsstatistik der Arbeitsämter viele Fragen offen, die derzeit zur Debatte stehen. Fast alle 26 verschiedenen "Abgangskategorien" erfassen Merkmale, die bestenfalls bürokratieintern interessant sind. Inwieweit die Arbeitsämter tatsächlich am jeweiligen Vermittlungsvorgang beteiligt waren, ist kaum nachzuvollziehen. Jedes Happy End eines neuen Jobs wird zu 100 Prozent über den eigenen Kamm geschoren - unabhängig davon, ob es sich um eine allgemeine Information oder um einen telefonischen Kontakt handelte, ob der Arbeitslose zum selbständigen Surfen in der Stellen-Datenbank SIS ermuntert und anschließend nie wieder gesehen wurde. Zwangsläufig entsteht auf diese Weise eine Statistik, die sich vor allem selbst genügt. Nach Auswertung weiterer Stichproben dürfte das Resultat noch aus einem anderen Grunde ernüchternd sein. Als "Erfolg" gelten nämlich bisher auch alle Vermittlungen in öffentlich finanzierte Beschäftigung, bei denen die Arbeitsämter eher Maßnahmen zuweisen und eben nicht klassisches Job-Matching betreiben. Ebenso dreht sich der Vermittlungszähler bei den Tagesjobs nebenberuflicher Winterdienstler und bei studentischen Weihnachtsmännern. Am Ende wird man an dem Punkt landen, der von Experten schon seit Jahren als realistische Schätzung genannt worden ist: Bestenfalls 20 bis 30 Prozent aller Vermittlungen in der Bundesrepublik erfolgen über die Arbeitsämter. Nicht zuletzt deshalb zeigen die Unternehmen ihnen auch nur etwa 20 Prozent der tatsächlich offenen Stellen zur Vermittlung an. Trotz der langen Liste offenkundiger Peinlichkeiten steht Deutschlands größte Behörde mit ihren 90.000 Beschäftigten nicht allein am Pranger. Die Aktien sind breiter verteilt, als die Schlagzeilen suggerieren. Von der Zentrale in Nürnberg über die Landesarbeitsämter bis in die 181 dezentralen Arbeitsverwaltungen wird durchgehend drittelparitätische Selbstverwaltung von öffentlicher Hand (Bund, Länder und Gemeinden), Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ausgeübt. Arbeitsminister Riester ist zwar für Jagoda als Präsident verantwortlich, nicht aber für die laufenden Geschäfte. Ob also Dieter Hundts Doppelkinn zornig bebt, Ursula Engelen-Kefer nach rückhaltloser Aufklärung ruft oder sich Reiner Brüderle von der FDP mit seiner Forderung nach völliger Privatisierung der Bundesanstalt schon mal als Wirtschaftsminister der nächsten sozial-liberalen Regierung warmläuft - der Alzheimer politisch mitverantwortlicher Kritiker ist wirklich eindrucksvoll. So bleibt also Jagoda keine Chance, obgleich er im Vergleich zu seinem Vorgänger Heinrich Franke einige positive Akzente setzen konnte. Die Behörde selbst aber wird nicht ohne weiteres untergehen - trotz aller Hysterie in den Medien. Niemand wird diesen Koloss, in dem sich aufgrund der Selbstverwaltung so viele Interessen kreuzen, mal eben reformieren können, ohne zum politischen Märtyrer zu werden.