Joe Biden will die US-Amerikaner irgendwie versöhnen nach der Zerrissenheit der Trump-Jahre. Das erfüllt Sehnsüchte nach Normalität, könnte jedoch auf Kosten von Reform und Wandel gehen. Ähnlichen Versöhnungswillen hat man schon einmal 2009 bei Barack Obama erlebt – die Bestandsaufnahme erbringt gemischte Ergebnisse. Der demokratische Präsident hatte trotz demokratischer Mehrheit im Kongress in den ersten beiden Jahren mit den Republikanern und nicht gegen sie regieren wollen. 2010 folgte eine hochkarätige Niederlage bei den Zwischenwahlen zum Kongress, sechs Jahre danach wurde Donald Trump gewählt. Joe Biden, der Wert legt auf Kooperation, muss mit dieser Vergangenheit zurechtkommen.
Er wolle Präsident aller Bürgerinnen und
innen und Bürger sein, hat er oft versichert, die Nation zusammenbringen, lebe man doch in den Vereinigten Staaten von Amerika, mit Betonung auf „Vereinigten“. Das Konzept hat im Wahlkampf eine Erfolgskoalition geschaffen, eine Einheitsfront von Rechtsstaatlichkeit, Anstand und Demokratie gegen den von despotischem Ehrgeiz getriebenen Donald Trump. Nun erwarten Bidens Wähler etwas konkret Neues. Parallelen zu Obama drängten sich auf, warnt in einem Arbeitspapier der linksliberale Aktionsverband Indivisible Action mit Hunderten Ortsgruppen: Der Versuch, mit den Republikanern zu kooperieren, habe einst wertvolle Zeit gekostet, manche Reformen seien kleiner ausgefallen, und auf republikanischer Seite habe bald die rechte Tea Party Unzufriedene mobilisiert. Biden dürfe Obamas Fehler nicht wiederholen.Damals mussten die USA aus der Finanzkrise herauskommen. Heute steckt die Nation in der Corona-Katastrophe. In den derzeit am härtesten betroffenen Regionen Südkaliforniens liegen die Covid-19-Patienten auf Krankenhausgängen. Mehr als 380.000 US-Amerikaner sind bisher an diesem Virus gestorben. Am Tag des Angriffs der Trump-Anhänger auf das Kapitol waren es fast 4.000. Laut dem Economic Policy Institute sind gut 27 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter von der Pandemie betroffen durch Jobverlust, reduzierte Arbeitszeit und weniger Einkommen. In den schlechtergestellten Vierteln stapeln Hilfsverbände Schachteln mit Nudeln, Erdnussbutter, Thunfisch, Bohnen und sonstigen Lebensmitteln zum Abholen. Pkws werden beladen. Solche Szenen sieht man überall im Land, die Menschen leiden unter Hunger.Knappe Mehrheit im SenatObama ist bei seinem Bemühen um Überparteilichkeit gegen eine republikanische Wand gerannt. „Wir werden alles tun, um Obamas Vorhaben zu stoppen und zu verlangsamen, wo auch immer wir können“, sagte damals der republikanische Abgeordnete John Boehner. Und Bidens demokratische Mehrheit im Kongress ist nicht groß. Im Repräsentantenhaus stellen die Demokraten 222 Abgeordnete, die Republikaner 211 (zwei Posten sind noch offen). Im Senat sind die Machtverhältnisse 50 zu 50. Bei einem Patt gibt die Stimme von Vizepräsidentin Kamala Harris den Ausschlag.Biden hat ein weitreichendes Corona-Hilfspaket in Aussicht gestellt. 2.000 Dollar für jeden bis zu einem bestimmten Einkommen. Teilweise werden Studiendarlehen erlassen. Es gibt Hilfen für kleine Firmen, eine fühlbare Stütze würde so manchen Gegner der Demokraten wenigstens ein bisschen mit dem Staat versöhnen. Das letzte Hilfspaket war Ende 2020 im Konflikt zwischen beiden Parteien verwässert worden. An seinem ersten Regierungstag will Biden zudem Maßnahmen vorlegen, um Trumps Steuergeschenke an Wohlhabende und Unternehmen rückgängig zu machen.Das Kabinett signalisiert insgesamt den Neuanfang: zahlreiche Frauen, Afroamerikaner, Latinos, andere Ethnien (siehe Übersicht). Eine Abkehr von Trumps Kabinett mit seinen vielen rechten weißen Männern. Inhaltlich steuert Biden Richtung Mitte. Bei Umwelt und Klima sind Ökoverbände relativ zufrieden. Bei Wirtschaftsfragen und der Justiz tauchen Figuren auf, die man dem demokratischen Establishment zurechnet. In der Außen- und Sicherheitspolitik sieht alles nach einer Rückkehr zum Obama-Kurs aus. Biden spricht von Versöhnung auch mit Blick auf die Macht der USA. Die Optik vom Ansturm aufs Kapitol war ungünstig für seine Rhetorik vom starken Amerika. Beim Vorstellen seines außenpolitischen Teams hatte Biden versichert: „Amerika ist zurück!“ Die USA würden wieder „am Kopf des Tisches sitzen“. Der neue Präsident will im ersten Amtsjahr die „Demokratien der Welt“ zu einem Gipfel zusammenbringen, um gemeinsame Werte zu bekräftigen. Eine Teilnehmerliste gibt es noch nicht. Es sei wahrscheinlich, dass die Republikaner versuchen werden, Biden zu behindern, warnt die Graswurzel-Bewegung „Indivisible“. Zu erwarten sei ein rechter Gegenschlag.Man denkt an den rabiaten Widerstand gegen Obamas „sozialistische Krankenversicherung“. Der von Donald Trump angefeuerte Ansturm auf das Kapitol mit fünf Toten, darunter ein Polizist, verschafft den Republikanern allerdings Probleme. Hier haben ein paar Hundert Aufrührer, viele offenbar aus der nationalistisch rechten Szene, den Worten der Politiker von Wahlbetrug Taten folgen lassen und gezeigt, was an Gewaltbereitschaft vorhanden ist. Dementsprechend sollen bei der Amtseinführung am 20. Januar 15.000 Nationalgardisten bereitstehen. In den 1990er Jahren haben die USA das Wachstum und den Fall einer Bewegung regierungsfeindlicher Milizen erlebt. Der Staat hat diese Gruppen weitgehend außer Gefecht gesetzt nach dem rechtsextremistischen Attentat mit 168 Toten 1995 in Oklahoma City. Es wird spekuliert, manche Polizisten im Kapitol hätten die Trump-Anhänger begünstigt. Bidens Generalstaatsanwalt dürfte gegen bewaffnete Gruppen zur Tat schreiten, die im neuen Präsidenten einen neuen großen Feind gefunden haben.Noch ist nicht absehbar, wie die Republikaner mit dem Abgang ihres nun auch noch Twitter-losen Zampano zurechtkommen. Manche reden ebenfalls von Versöhnung und klagen, das mit den Kapitol-Stürmern erregte Aufsehen habe Trumps Leistungen in den Hintergrund gedrängt. Die Demokraten sollten auf eine Amtsenthebung wie Sanktionen gegen Politiker verzichten, um die Atmosphäre nicht weiter aufzuheizen. Baptistenprediger Franklin Graham, ein politischer Bundesgenosse Trumps, hat vorgeschlagen, der noch amtierende Präsident und der künftige sollten zusammenkommen, um „das Heilen“ zu beginnen. Das würde in der Tat zum guten Ton gehören.Die USA werden gepriesen als einzigartige Nation, unentbehrlich für den Rest der Welt. Damit wollen Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris für gute Gefühle sorgen. Eine andere Wahrheit will man der Öffentlichkeit nicht zumuten. So etwas wie der Ansturm auf das Kapitol war für viele schwer vorstellbar, bis er dann passiert ist. Und dass ein Virus ausgerechnet die USA derart verheeren würde, hielt man ebenfalls für undenkbar. Bidens Zukunft hängt wohl davon ab, wie gut er in der realen Welt mit den einst nicht vorstellbaren Umständen umgeht. Er kann sich auf eine durch die Opposition gegen Trump erprobte Wählerschaft stützen.Placeholder infobox-1