Obskure Bahnfahrt

Kino Ein vermeintlicher Episodenfilm wird zum erzählerischen Labyrinth, zum Thriller voll schwarzem Humor und Ekel
Ausgabe 35/2020

Mal angenommen, eine Frau kommt nach Hause und ertappt ihren Mann dabei, wie er seine eigene Scheiße mit einem Eisstiel inspiziert ...“ Ein Satz, der mit Wucht aus jeder Wohlfühlzone katapultiert. Dabei ist es nicht etwa eine Figur, die uns hier ihre Koprophagie gesteht, sondern eine Stimme aus dem Off, die mit diesem Satz eine Geschichte beginnt. Wenn ein Erzähler so früh eine solche Bombe platzen lässt, ist man in gewisser Weise gewarnt.

Die Frau – sie heißt Helga (Pilar Castro) – sitzt wenig später in einem Zug. Sie ist auf dem Weg nach Madrid, nachdem sie ihren Mann Emilio (Quim Gutiérrez) in einer psychiatrischen Klinik untergebracht hat. Im Zug trifft die als Verlegerin arbeitende Frau auf den Psychiater Ángel (Ernesto Alterio). Der behauptet, sie zuvor in der Klinik gesehen zu haben und den Fall ihres Mannes zu kennen. Anstatt von dem Fremden und seinem Wissen über ihr Privatleben irritiert zu sein, hört Helga ihm einfach weiter zu.

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden ist das Langfilmdebüt des spanischen Regisseurs Aritz Moreno und basiert auf dem in Deutschland noch nicht erschienenen Roman Ventajas de viajar en tren von Antonio Orejudo. Der Film erzählt in Episoden, die den Zuschauer mit Elementen von Horror, Thriller und schwarzer Komödie immer tiefer in Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen hineinziehen. Moreno sieht sich dabei ganz offensichtlich in der Tradition des filmischen Surrealismus à la Buñuel, der durch Aufhebung von Realität und Logik den Motiven des Unbewussten Reverenz erweist. Wie Buñuel legt es Moreno auf Ambivalenz an, auf die Kombination von Anziehung und Abwehr in einem Bild, wie etwa beim berühmten Schnitt ins Auge in Buñuels Ein andalusischer Hund. Statt an Buñuels Schwarz-Weiß-Ästhetik anzuknüpfen, spielt Moreno mit der bunten, skurril-lieblichen Optik eines Wes Anderson, wenn zum Beispiel Ángel Pullunder mit Schottenmuster trägt oder Blumentapeten dieselbe Farbe wie die Kleidung der Protagonisten besitzen. Hinzu kommt eine Neigung zum gelegentlichen Slapstick mit umherfliegenden Kroketten oder spektakulär zerbrechenden Tischplatten. Doch der Humor dieser Szenen macht die oft albtraumhaften Details des Stoffes nicht weniger verstörend.

Erzählt wird etwa von einer Krankenschwester, die sich im Kosovokrieg auf einen Menschenhandel mit Kindern einlässt, oder einer Frau, die zu einem Mann ein Stockholm-Syndrom entwickelt, während er sie wie einen Hund behandelt, buchstäblich, samt Schlafen in der Hundehütte und Halsband. Die längste Zeit widmet Moreno dem Erzählstrang um den ehemaligen Soldaten Martín (Luis Tosar), der als Müllmann mit der Zeit eine Art Fetisch für Weggeworfenes entwickelt – und sich von Kot zu ernähren beginnt. Zugleich steigert er sich in eine Paranoia hinein und vermutet eine groß angelegte staatliche Überwachung, die unmittelbar mit dem Hausmüll zusammenhängt.

Paradox reizvolle Perversion

Zunächst hält man die einzelnen Episoden für abgeschlossen. Doch als besonderer Reiz des Films stellt sich heraus, dass sie es gerade nicht sind. Erzähler wechseln, Figurenrollen werden neu vergeben, Geschehnisse wiederholen sich aus anderer Perspektive oder werden im Nachhinein als unwichtig markiert. Martín sagt an einer Stelle: „Vergiss, was du zuvor gehört hast“ – angesichts der starken sinnlichen Eindrücke jedoch ein schwieriges Unterfangen. Das erzählerische Labyrinth fordert den Zuschauer heraus, auch rein visuell. Mit sich bewegenden Räumen schafft Moreno an einer Stelle trotz ungleich geringeren Budgets sogar einen kleinen Christopher-Nolan-Inception-Augenblick. Traum und Wirklichkeit lassen sich nicht mehr zuverlässig auseinanderhalten.

Der Fokus auf Schockmomente hat zur Folge, dass die stilleren Aspekte des Erzählten in den Hintergrund geraten. Dinge wie Helgas Plan, Martíns Krankheit für Profit in einem Buch auszuschlachten, dessen grausame Beiläufigkeit gerade in der Umbekümmertheit zum Ausdruck kommt, mit der er ausgesprochen wird. Als Zuschauer hat man das Gefühl, nie genug zu erfahren über die in ihren Perversionen paradox reizvollen Figuren. Letztlich wird dem Film gewissermaßen die Prophezeiung des Zugreisenden zum Verhängnis, der an einer Stelle ankündigt: „Es wird eine Ansammlung von Geschichten geben. Eine nach der anderen. Und dennoch finden wir keine Person.“

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden Aritz Moreno Spanien/Frankreich 2019, 106 Min

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