Ode an meinen Schreibtisch

Die Kosmopolitin Wie unsere Autorin ihr liebstes Möbelstück einem Geflüchteten schenkte – und es dann bereute
Ausgabe 36/2016
Oh Schreibtisch!
Oh Schreibtisch!

Foto: Science Photo Library/Imago

Den einzigen Schreibtisch, der mir etwas bedeutete, habe ich verschenkt. Er war alt, voller Dellen und Kratzer, eine Hässlichkeit unter Möbeln, er war weinerlich fehl. Ich schenkte ihn einem Studenten, der nach Deutschland geflüchtet war, ich kannte ihn nicht, eine Nachbarin brachte ihm Deutsch bei, und ich zeichnete mir den Kreislauf schön: Den Schreibtisch, ein Jugendzimmerstück, helles Kiefernholz, hatten mir meine Eltern gekauft, als wir nach endlosen anderthalb Jahren im Asylbewerberwohnheim in eine richtige Wohnung gezogen waren, eines der wenigen Möbelstücke darin, das nicht vom Sperrmüll oder von Bekannten stammte. An dem Schreibtisch machte ich Hausaufgaben und schrieb sinntriefende Gedichte über das Verschwinden des Ich in einer schwarzen Masse, später zog er mit mir von WG zu WG, von Stadt zu Stadt, auf ihm schrieb ich meinen ersten Roman.

Ich zeichnete mir den Kreislauf schön: Dem Roman waren weitere gefolgt, ich zog nun los, um mir einen neuen Schreibtisch zu kaufen, der nicht nach Jugendzimmer aussah, und verschenkte den alten an einen Studenten, der vielleicht fühlte, was ich auch gefühlt hatte, die Fremde und das Neue und die Freude, und vielleicht redete ich mir auch das schön. Abends, der Platz am Fenster war kreischend leer, kam das Bereuen in Form von Wut: An dem Schreibtisch hatte ich meinen ersten Roman geschrieben. Was hatte der Roman mit mir gemacht, dass ich Erinnerungen wegen Dellen verschenkte?

Der neue Schreibtisch hatte keine Bedeutung. Er hielt den Computer, räumte Büchern, Papieren und Zetteln Platz ein und war eine Unterlage für Dinge mit Bedeutung: Bilder und Postkarten, die ich in meiner Nähe wollte, Steinchen und andere Staubfänger, die eine Erinnerung waren. Brauchst-du-das-noch-Dinge, würde jemand sagen, der mir beim Aufräumen helfen würde, und ich würde sie aus der Hand reißen, ja, klar, lass sie stehen.

Der neue Schreibtisch steht gerade im Wohnzimmer, wo manchmal die Kinder spielen, während ich am Schreibtisch sitze, lese, schreibe und so tue, als hörte ich das Geplapper der Playmobil-Männchen nicht. Einmal sitze ich am Schreibtisch, und weil die Männchen doch ziemlich laut reden, kann ich mich nicht konzentrieren, und ich scrolle meine Facebook-Timeline runter, in der oft dieses Bild des blutüberströmten Jungen aus Aleppo auftaucht, bei dem viele aufschrien, als wüssten wir nicht seit langem, dass Aleppo voller solcher Jungen ist.

Mein Sohn steht neben mir, er ist sechs und möchte wissen, warum der Junge so aussieht, er möchte wissen: Warum Krieg? Ich scheitere am Versuch einer kindgerechten Erklärung der Ungerechtigkeiten dieser Welt. Dann steigt mein Sohn aus meinen Sätzen, die einen Zusammenhang suchen, den das Leben nicht bietet, aus, sagt: „Ich will dem Jungen meinen Eisi schenken.“ Eisi ist ein Eisbär, der überallhin mitkommt, mit im Bett schläft und eine Weste tragen muss, wenn es kalt ist. Ich sitze an meinem blöden Schreibtisch und weiß nicht weiter.

Wir alle haben Vorstellungen und Ideale, auch wenn wir so tun, als ob nicht. Zu unseren gehört die Hoffnung, die Kinder mögen empathische, politisch aktive Menschen werden, Menschen im Sinne von menschlich. Ich könnte mich freuen über seine Gefühlsregung, über die Idee. Aber ich sitze an diesem Schreibtisch und denke, wohl nicht besonders menschlich: Alles, außer Eisi, vielleicht. Und ich schäme mich dafür, vielleicht.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin für den Freitag. Zuletzt erschien von ihr der Roman Null bis unendlich (Rowohlt 2015)

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