Streaming boomt: Fast 200 Millionen zahlende Abonnenten hat allein Netflix mittlerweile von sich überzeugen können. Disney+ hat in weniger als einem Jahr 60 Millionen Kunden an sich gebunden. Das beinahe zeitgleich an den Start gegangene Apple TV+ immerhin etwa halb so viele. Und schon Anfang des Jahres verkündete Jeff Bezos, dass Amazon die Marke von 150 Millionen Prime-Kunden geknackt habe. Wie viele von ihnen tatsächlich regelmäßig das Streaming-Angebot nutzen, ist allerdings unklar. Schließlich lockt auch die kostenlose und arbeitnehmerunfreundliche Schnelligkeit der Lieferungen in die Mitgliedschaft.
Geht es nach Marcus S. Kleiner, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences, ist es auch g
es auch ganz egal, ob man nun Netflix oder einen der anderen großen Anbieter konsumiert. Denn das Gift ist überall das gleiche. Mit seinem Buch Streamland, das gerade im Droemer-Verlag erschienen ist, hat die Kritik an den Streaming-Anbietern einen neuen Höhepunkt erreicht. Kleiner argumentiert darin, dass uns die Art, wie wir das Angebot der Streaming-Dienste nutzen, zu denkfaulen Egozentrikern mache, und schlägt damit in eine Kerbe vage vor sich hin wabernder Medienkritik. Doch Kleiner geht einen Schritt weiter und behauptet, dass eine so vonstattengehende Produktion unmündiger Bürger wiederum nichts Geringeres als die Gefährdung der Demokratie zur Folge hätte.Während sich die Feuilletons vor allem für die dargebotenen Inhalte interessieren, richtet sich ein anderer Aspekt der Medienkritik mehr und mehr gegen die Art ihrer Vermittlung. Bemängelt wird die Tatsache, dass das Sehverhalten der Abonnenten überwacht und zeitgleich ausgewertet wird, um mithilfe von Algorithmen passgenaue Empfehlungen auszusprechen. Denn indem wir als gebannte Zuschauer immer nur mit Themen konfrontiert werden, die zum eigenen Geschmack passen, würde sich zwangsläufig eine Verengung unserer Perspektive auf die Welt ergeben.Was hier berechtigterweise an den Pranger gestellt wird, ist allerdings kein Streaming-spezifisches Problem, sondern das Geschäft von Big-Data-Unternehmen im Allgemeinen. Digitalkonzerne, die unser Verhalten konstant im Visier haben, um mit passgenauen Produkten den Konsum aufrechtzuerhalten. Stichwort: Überwachungskapitalismus. Personalisierte Suchergebnisse auf Google und maßgeschneiderte „News“ auf Facebook sind ein Filterblasen-Problem, das die gesamte digitale Welt betrifft. Dass große Datenkraken wie Netflix und Amazon Prime Video von der Kritik an der Übermacht der Digitalindustrie meist ausgeblendet werden, ist in der Tat problematisch und ein weiterer Punkt auf der langen, dringend anzugehenden Liste an politischen Herausforderungen um die Digitalisierung.Und dennoch stellt sich die Frage, ob der Stellenwert der Algorithmen explizit im Streaming-Umfeld nicht etwas überschätzt wird. Eine viel zitierte Zahl dazu, wie viele Inhalte auf Netflix tatsächlich nach Empfehlung geschaut werden, lautet: stolze 80 Prozent. Die stammt von Ted Sarandos, dem Verantwortlichen für Content-Strategie bei Netflix höchstpersönlich. Allerdings muss man diese Zahl durchaus infrage stellen: Laut einer repräsentativen Umfrage, die Anfang des Jahres von „nextMedia.Hamburg“ in Auftrag gegeben wurde, beklagt immerhin fast die Hälfte der Streaming-Nutzer, selten bis nie passende Empfehlungen zu erhalten.Wie das prägt? UnklarDie verengte Weltsicht ist nicht die einzige Entwicklung, die den Streaming-Anbietern zur Last gelegt wird. Unter der Tatsache, dass wir uns nicht mehr selbst um die Programmgestaltung kümmern müssen, sondern bequem auf die passgenauen Vorschläge des Algorithmus vertrauen, leide außerdem unsere Entscheidungsfreudigkeit. Auch würde sich der so entstehende Anspruch, dass unser Verlangen nach treffsicherer Unterhaltung immer und überall gestillt wird, auf die analoge Welt übertragen. Netflix wird darin eine opiumähnlich lähmende Funktion zugeschrieben. Alles Entwicklungen, die sich gerade in der jungen Generation verfestigen würden. Hier verfängt sich die Kritik an den viel beschworenen „Millennials“ wie so oft allerdings in vagen Gefühlswahrnehmungen.Eine Antwort auf die Frage, warum sich die so attestierte „On Demand“-Haltung der jungen Generation in puncto Unterhaltung und die Bereitschaft, sich tiefergehend mit gesellschaftlich relevanten Themen zu beschäftigen, ausschließen müssen, bleibt diese Kritik schuldig. Unklar bleibt auch, wie das Bild der als politisch interessiert geltenden jungen Generation, was sich im Engagement gegen den Klimawandel, einem erhöhten Bewusstsein für Rassismus, Sexismus und in Kapitalismuskritik äußert, mit dem der vor sich hin siechenden, durch Binge-Orgien denkfaul gewordenen „Millennials“ zusammenpasst.Bei Kleiner etwa sind es die Erfahrungen mit Kursteilnehmern und der überhaupt als bildungsfeindlich wahrgenommenen Gemengelage an den deutschen Hochschulen, durch die er zu seinem Urteil über narzisstische „Digital Natives“ kommt. Paradoxerweise hat seine auf gefühlte Wahrheiten gründende Beweisführung viel mit dem kritisierten „Dokutainment“-Stil gemein – wie etwa nach dem Konsum der Netflix-Serie Pandemie, die zu Recht für ihre Angst-Rhetorik bemängelt wurde, bleibt auch am Ende der Lektüre von Streamland „höchstens eine Form von Halbbildung, also das Gefühl, bei den gezeigten Themen irgendwie mitreden zu können“, zurück. Es scheint so, als gehe die Kritik an Streaming-Diensten gemeinhin von einem bereits entmündigten Publikum aus, das man nur noch über Emotionalisierung erreicht.Was gegen den Inhalt der Filme und Serien auf Netflix, Amazon Prime Video und Co. wiederum in Stellung gebracht wird, ist die Orientierung der Dienste am Profit. Doch welche neuen Erkenntnisse lassen sich aus dieser Feststellung ziehen? Dass Netflix in erster Linie an seinen Abo-Zahlen interessiert ist? Dass auch Amazon Prime Video Empfehlungen personalisiert – nicht um den Kund*innen einen Gefallen zu tun, sondern um sie möglichst effektiv an sich zu binden? Dass also gewinnorientierte Megakonzerne mit dem Idealismus der meisten Programmkinobetreiber nicht mithalten können?Das alles ist bekannt und beklagenswert. Dennoch trifft die Kritik nicht, wenn geschlussfolgert wird, dass daraus mehr denn je uniformierte Massenmenschen hervorgehen. Sicherlich ist das, was die Streaming-Anbieter zur Verfügung stellen, nicht nur paradiesische Vielfalt. In der Flut an wöchentlichen Neustarts lässt sich eine enorme Durchschnittlichkeit und eine gewisse Gleichförmigkeit beobachten. Und dennoch beleuchtet Netflix unter all dem Mediokren immer wieder Themen, die aufgrund ihrer Randständigkeit im herkömmlichen TV bislang eben keinen Platz gefunden haben. Von Reality-Formaten wie Queer Eye über sozialkritische Miniserien wie When They See Us von Ava DuVernay bis zu Dokumentationen wie Disclosure: Hollywoods Bild von Transgender – eine Ausstrahlung im „normalen“ linearen Fernsehen wäre gar nicht oder doch nur zu später Stunde vorstellbar.Zwar droht hier wiederum die Gefahr, dass diese neue Diversität in ein fahles Geschäftsmodell umschlägt. Doch um entscheidungsfreudig sein zu können, braucht es erst einmal eine gewisse Entscheidungsfreiheit im Sinne einer ausreichend großen Angebotsvielfalt. Und die ist durch die Streaming-Dienste tatsächlich gewachsen. Dass wir sie nutzen, uns Gedanken darüber machen, was wir sehen wollen, uns nicht mit der erstbesten „maschinellen“ Empfehlung zufriedengeben und Kultur nicht zur Dauerberieselung verkommen lassen, haben wir immer noch selbst in der Hand.Wenn Netflix nun seit Anfang November in Frankreich ein neues lineares Programm namens „Direct“ testet, rührt das Angebot, dem Zuschauer die Entscheidung über das, was er konkret im Moment sehen will, wieder abzunehmen, aus einem anderen als dem Streaming-Zeitalter her. Und geht wahrscheinlich auch von einer ganz anderen Zielgruppe als den „Digital Natives“ aus.
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