Die Edition Tiamat ist ein linker Verlag und Michael Hanfeld, der stellvertretende Leiter des Feuilletons der FAZ, ein nicht so linker Journalist. Hanfeld ist der wortmächtigste Kritiker des öffentlich-rechtlichen Fernsehens hierzulande, und Berthold Seliger zitiert ihn häufig wohlwollend in seinem Buch I Have a Stream, das bei Tiamat erschienen ist. Auch ein marktradikales Gutachten mit dem Titel Öffentlich-rechtliche Medien – Aufgabe und Finanzierung, verfasst von einem „wissenschaftlichen Beirat“ des für Rundfunkpolitik nicht zuständigen Finanzministeriums, findet Seligers Beifall.
Fundamentale Angriffe auf das öffentlich-rechtliche System kommen in der Regel von rechts – seit jeher von Springers Bild, in den späten 70ern, frühen 80ern vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU), neuerdings von „Lügenpresse“-Skandierern. Das Buch wirft da Fragen auf: Ist so ein Kampf auch von links möglich? Ist Seliger ein linker Hanfeld?
Der Untertitel („Für die Abschaffung des gebührenfinanzierten Staatsfernsehens“) klingt etwas aus der Zeit gefallen, weil die Finanzierung durch Gebühren Anfang 2013 zugunsten eines Beitragsmodells abgeschafft wurde – was im Buch auch zur Sprache kommt. Aber „gebührenfinanziert“ knallt halt besser. An einigen Stellen hat sich sogar der alte Kampfbegriff „Zwangsgebühren“ in den Text eingeschlichen (als ob es jemals freiwillige Gebühren gegeben hätte). Mit seiner Kritik liegt Seliger in manchen Fällen richtig. Das gilt für den Hinweis darauf, dass „die Lebenswirklichkeit der Massen“ in fiktionalen Produktionen des deutschen Fernsehens nicht vorkommt.
Mit Schmackes
Das war in den 60er bis 80er Jahren noch anders. Diese Periode des von ihm so genannten sozialdemokratischen Fernsehens beschreibt Seliger detailliert. Es war die Zeit, als der NDR noch Drehbücher des kommunistischen Schriftstellers Christian Geissler verfilmen ließ und 45-minütige Fernsehgespräche mit Herbert Marcuse gesendet wurden. Dass es diese Art des Fernsehens nicht mehr gibt, ist aber nachvollziehbar, schließlich gibt es auch keine Sozialdemokratie im alten Sinne mehr. Man hätte sich gefreut, wäre Seliger der Frage nachgegangen, ob „die Verblödungsmaschine, die ARD und ZDF heute darstellen“, eine gesellschaftliche Entwicklung vorweggenommen hat, oder Erstere auf Letztere reagiert hat.
Manchmal hat man, ähnlich wie bei Hanfeld, den Eindruck, da schreibe einer unter erhöhtem Blutdruck. Der in vielen Heimatfilmen der ARD-Produktionstochter Degeto transportierte Provinzialismus bringt Seliger auf den „Faschisten Martin Heidegger“ (und dessen Meditationen darüber, „warum wir in der Provinz bleiben“) und schließlich zu der Formulierung „Blut-und-Boden-Fernsehen“. Solche missglückten Zuspitzungen – man könnte sie Seligerismen nennen – sind nicht untypisch für das Buch,
Anders als solche leicht cartoonesken Passagen ist die These, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen sei 2015 der 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz „kaum ein besonderes Programm wert“ gewesen, wirklich ärgerlich. Die Masse der Beiträge war kaum zu überschauen, es gab Schwerpunkte in der ARD und bei ZDFinfo, diverse Web-Specials und so weiter.
Seliger ist kein Medienjournalist, deshalb fallen ihm womöglich Dinge auf, die der Fachidiot vernachlässigt. Er fragt etwa, warum der NDR den Industriellenclan Agnelli ein bisschen reicher macht, indem er die Firma Brainpool, an der die Familie mittelbar beteiligt ist, ESC-Vorausscheide produzieren lässt. Oft schreibt er aber das, was die Mehrheit der Medienjournalisten schreibt: Anspruchsvolle Serien gibt es erst seit den Sopranos. Und ein Netflix-Herold ist Seliger auch. Er tut so, als könne ein Streaming-Dienst Konkurrenz für Vollprogramme mit Nachrichten, Politikmagazinen und Reportagen sein. Links ist an so einer Haltung nichts; normalerweise wird sie von Leuten vertreten, die ansonsten den Eindruck erwecken, sie hielten den von Seliger geschätzten Michel Foucault für einen Duftdesigner.
Ohne O-Ton
Es passiert selten, dass man bei der Lektüre eines Buchs so schnell von beifälligem Nicken in verzweifeltes Kopfschütteln verfällt. Als Sofortmaßnahme auf dem Weg zur Abschaffung der Öffentlich-Rechtlichen fordert Seliger etwa, dass diese keine privaten Produktionsfirmen mehr beauftragen dürfen. Das hätte den Ruin einiger honoriger Doku-Produzenten zur Folge.
Manchmal rekapituliert Seliger das gesammelte Material zu Debatten, die tages- und wochenaktuell im Netz rauf und runter liefen (Ukraine-Berichterstattung, Lanz vs. Wagenknecht) und dort immer noch verfügbar sind. Sachbuchautoren müssen da heute einen anderen Dreh finden. Als Nachteil erweist sich überdies, dass Seliger mit den vielen Personen, die er zitiert, nicht gesprochen zu haben scheint. Aufgrund zu vieler (in der Regel wenig überraschender) Sekundärquellen wirkt das Buch teilweise unlebendig. Da Kritiker des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auf den Bäumen wachsen, wäre es kein Akt gewesen, sich schmissige O-Töne zu beschaffen.
Info
I Have a Stream. Für die Abschaffung des gebührenfinanzierten Staatsfernsehens Berthold Seliger Edition Tiamat, 304 S., 16 €
Kommentare 8
Eine Freitag-Lanze für das öffentlich-rechtliche Fernsehen – nicht das sozialdemokratische der 80er mit kritischen Magazinen à la Panorama, Mario-Adorf-Vierteilern, Serien-Drehbüchern von Jurek Becker und Musik-Sendungen wie etwa dem Rockpalast. Nein – eine für Dr. Mertens sowie den Rest des Vollschrotts, den ARD und ZDF versenden. Geht es darum, ein Klartextansage-Buch über das öffentlich-rechtliche Schwachmaten-TV in den Senkel zu stellen, ist sich der Beitragsautor selbst für Begriffs-Wortklaubereien nicht zu schade. Selbst dann, wenn der feinsinnige Unterschied zwischen »Gebühren« und »Beiträgen« lediglich eines unter Beweis stellt: dass das Staats-TV die Grenze zur Unaushaltbarkeit längst überschritten hat und der kritisierte Buchautor mit seiner Polemik – wahrscheinlich – ziemlich richtig liegt.
Ich vermute mal, dass die Kritik an I Have a Stream der fortschrittlich-staatsfreundlichen Grundhaltung der Freitag-Redaktion geschuldet ist. Da das heruntergewirtschaftete »Gut«, das Seliger in seinem Buch mit Kritik überzieht, letztlich in Staatshand ist, gilt es, dieses zu verteidigen – insbesondere gegen private Anbieter wie Netflix, welche den politischen Grundauftrag a) aus konzeptionellen Gründen nicht wahrnehmen können, b) als kapitalgedeckte private Medien dies auch gar nicht sollen. Diese Form der Kritik-Kritik ist allerdings billig. Als klassischer Äpfel-Birnen-Vergleich geht sie darüber hinaus am Thema vorbei. Denn: In Wirklichkeit ist es durchaus möglich, Zustand und Programm der Öffentlich-Rechtlichen als desaströs zu klassifizieren und politisch eine grundlegende dieser Institutionen zu fordern (anstatt ausschließlich Privat-TV).
Leider präferiert die Medienkritik des Freitag mit dieser Haltung den taktischen Weg anstatt des grundsätzlichen, diskussionsoffenen. Auch um den Preis des Kollateralschadens, dass ein – wahrscheinlich – prägnantes, notwendiges und im Hinblick auf sein Thema neues Buch einen Verriss einstecken muß. Sicher: Gut möglich, dass Seliger über das ein oder andere Ziel hinausschießt, politisch falsche Forderungen ableitet oder bedenkliche Nähen zum »Wutbürger«-Milieu in Kauf nimmt. Anstatt die sekundären Punkte als sekundär zu behandeln und beim Hauptthema zu bleiben (Ist das Öffentlich-Rechtliche so schlecht wie beschrieben – Ja oder Nein?), eiert die Freitag-Kritik lieber staatstragend rum. Und erinnert mit dieser Haltung an die Nibelungentreue mancher Öffentlich-Rechtlicher. Die meinten, im Anblick einer zunehmend medienkritischer eingestellten Friedensbewegung selbst offensichtliche Berichterstattungs-Desaster verteidigen zu müssen, wie sie anlässlich der Ukraine-Krise eine Zeitlang gang und gäbe waren.
Der Freitag hat sich mit dieser Buch-Kritik in ähnliche Gefilde begeben. Und sich mit obigem Verriss auf die Seite der Dummbratzen, Bürokraten und Sechzig-Aufwärts-Spießer geschlagen. Tatort und Dr- Mertens – Si, Sopranos – No: Das unterirdische Niveau der ÖRM kann sich mit dieser Form systemaffirmativer Streichel-Kritik eigentlich nur weiter verschlimmern. Berthold Seliger zeigt mit seinem Buch immerhin auf den schwelenden TV-Wundbrand. Insofern, als versöhnlicher Schluss dieses Kommentars: Danke für den Tipp!
Ic kenne das Buch nicht. Aber wenn der Autor dieses Artikels behauptet es gaebe kiene Gebuehren mehr, nur weil man dem Zeitgeist folgend einen Tarnnamen dafuer verwendet (Beitrag anstatt Gebuehren etc.), dann hat er sich in meinen Augen allein dafuer schon einigermassen disqualifiziert! In mienr deutshcen Wohnung zahle ich nach wie vor uebr 50 Euro/Quartal!
(als ob es jemals freiwillige Gebühren gegeben hätte), Beiträge bezahle ich freiwillig. Was soll eigentlich dieser Artikel ?
Wie werden von Beamte wieder abgezockt so oder so. Egal ob es Zwangs"Gebühren oder Zwangs"Beiträge" heißt abgezockt bleibt abgezockt. Lügenpresse oder Hofberichterstatter, ob öffentlich-rechtlich oder privat.
Ist das Öffentlich-Rechtliche so schlecht wie beschrieben – Ja oder Nein?
Klares Ja. Es ist das alte Lied: Wo genug Geld da ist, werden die an der Sache Beteiligten träge. Sie nehmen nicht die Haltung ein, dass sie für das viele Geld etwas Ordentliches leisten müssten - das tun sie selbstverständlich, denken sie, alles andere ist ungerecht. Sondern sie fangen an zu wehklagen, dass das Geld hinten und vorne nicht reiche und dass man deshalb nicht noch mehr machen könne, obwohl man das gerne wolle. Das alte Klagelied: Je mehr er hat, je mehr er will, nie schweigen seine Klagen still, wird verfeinert durch die Erkenntnis, dass man, um an noch mehr Geld zu kommen, nicht nur lauter danach schreien muss sondern auch weniger leisten kann.
"Dummbratzen, Bürokraten und Sechzig-Aufwärts-Spießer"
Wer so den Rest der Bevölkerung einschätzt, möchte gerne führen, doch nur, wohin?
Das TV ist doch auch nur ein Spiegel der Verfasstheit dieses schönen Landes.
Wer mit wem, und warum.
Kritik an den herrschenden Verhältnissen ist doch erlaubt, ab 23.30h, einmal im Quartal.
Den Rest hat Heine beschrieben "womit man einlullt wenn er greint, das Volk der grobe Lümmel".
Trotzdem ist mir bei einem Gebühren-TV wohler, da kenn ich die Höhe der Gebühren.
Wer Umsonst-TV verkündet, lügt.
Es geht ausschließlich um Quote. Gerade die ARD hat sich sehr stark vom Kapital trieben lassen. Die Zunahme an fremden Produktionsgesellschaften ist Beleg dafür.
Vielleicht macht mal ein Verantwortlicher einen Test:
Nehmen sie den Sesselfurzern, die stark mit der Politik verbandelt sind ihr Spielzeug ab und schmeißen die aus den Aufsichtsräten raus. Was glauben sie, was dann los? Diese Gremien sind zu reinen Versorgungseinrichtungen verkommen. Wer in Berlin oder den jeweiligen Landeshaupstädten in der Politik nichts mehr erreicht hat, landet dort.
Statistisch betrachtet, vergeht keine Sendestunde in der nicht irgendein Mensch aus der Politik seinen Kopf vor die Kamera setzt und spricht. Es ist einfach zuviel! In Nachrichtensendungen
gibt es eine Verdichtung von stündlich auf minütlich.
Wir haben eine Kultur im Fernsehen, die offensichtlich langsam aber sicher verblödet, weil einzig und allein von wirtschaftlichen Interessen getrieben. Eben ein Spiegel unserer Kultur!
Das öffentlich-rechtlich genannte System ist ein Staatsfernsehen, weil es von Parteiinteressen gesteuert wird und behördenähnliche Strukturen entwickelt hat, die vor allem auf Besitzstandswahrung der Funktionäre ausgerichtet ist und dabei unglaubliche Mengen Geld verbrennt, das vom Publikum eingetrieben wird, ob es will oder nicht. Dadurch, dass man die Inhalte ins Internet gedrückt hat, ohne danach zu fragen, wer das will oder braucht, hat man auf clevere Art die juristische Grundlage dafür gelegt, jetzt auch die konsequenten Glotzenverweigerer abzukassieren, die nicht für etwas zur Kasse gebeten werden möchten, was sie nicht bestellt haben. Wer Internet hat, braucht keine Tagesschau.
Berichterstattung über die Geldmaschine Fußball oder die Quizsows des Herrn Jauch der informationellen Grundversorgung zuzurechnen ist oberdreist. Warum nicht gleich ein Zwangsabonnement der BILD-Zeitung?
Technisch ist bei den Öffentlichen immer alles vom Feinsten, aber das Verhältnis zwischen Produktionskosten und inhaltlichem Niveau einfach nur skandalös.
Aber: es ist bedauerlich, dass bei aller berechtigten Kritik nicht wahrgenommen zu werden scheint, dass es ein paar wirklich gelungene Hörfunkprogramme und die Sender arte und 3sat gibt. Das sollte der Gerechtigkeit halber angemerkt werden. Dafür würde ich ohne Murren vier oder fünf Euro im Monat bezahlen. Dafür könnten die auch endlich die Dokufilmer und Journalisten anständig bezahlen, die nicht Kluge heißen. Der Rest gehört in die werbefinanzierten bzw. aufpreispflichtigen Kanäle.
Zwangsbeitrag? Nein, danke!