Für westliche Waffenlieferungen in die Ukraine gilt seit Mitte Oktober eine neue Priorität – die Luftabwehr. Drei Wochen massiver russischer Angriffe auf die kritische Infrastruktur des Gegners hinterlassen Wirkung. Verschickt werden nun die verschiedensten NATO-Ausrüstungen, um Luftschläge abwehren zu können. Kanzler Olaf Scholz (SPD) verspricht hochmoderne IRIS-T-Systeme, die „so schnell es geht“ geliefert werden sollen, zusätzlich zu denen, die schon in der Ukraine sind. Das Pentagon kündigt den Transfer weiterer NASAMS-Systeme an, Spanien will vier HAWK-Systeme schicken, mit denen auch die USA noch nachlegen wollen. Es handelt sich zwar um veraltetes Equipment, aber dafür kann es sofort – „vom Lager“ – oh
ohne Zustimmung im Kongress rausgeschickt werden. Die ukrainische Führung nimmt alles und verlangt viel mehr.Wie wichtig ihr gegenwärtig die Luftabwehr ist, zeigte eine Episode während des Besuches von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Vorwoche. In dessen Zug fanden sich Grußkarten mit der Aufschrift „Liebe in der Luft“ und dem Abbild eines deutschen IRIS-T-Aggregats, das ein „Herzchen“ in die Luft schießt. Eine sonderbare „Liebeserklärung“, zugleich ein unmissverständlicher Hinweis, womit nachgerüstet werden soll.Ein Fehlurteil rächt sichDie immer eindringlicher werdenden Rufe aus Kiew sind auch ein Eingeständnis. Die iranischen Drohnenlieferungen wurden unterschätzt. Noch vor wenigen Wochen hieß es auf westlichen Portalen, dass die Flugkörper aus der Islamischen Republik keinerlei Einfluss auf den Kriegsverlauf haben würden. Ihr technologischer Standard gebe nicht mehr her. Sie seien zu störanfällig – ein Fehlurteil, das sich bitter rächt. Die ukrainische Luftverteidigung erweist sich als überfordert, die steten Drohnen-Wellen zu brechen. Folglich kann der ukrainischen Infrastruktur auf Dauer ein dermaßen relevanter Schaden entstehen, dass nicht nur ein Kollaps des Strom-, Heiz- und Eisenbahnsystems droht, sondern damit auch einer der staatlichen Strukturen.Ein interessanter Punkt dabei: Der Iran dementiert weiterhin konsequent, Drohnen überhaupt ausgeführt zu haben. Es wird darauf verwiesen, dass die eingesetzten Flugkörper allesamt russische Aufschriften tragen. Offenkundig eine zwischen beiden Staaten abgestimmte Tarnung, um Teheran nicht als Waffenlieferanten erkennbar werden zu lassen und dadurch politisch abzusichern. Eine iranische „Shahed-136“ wurde zu einer russischen „Geran-2“ (deutsch: Geranie-2). Die kompaktere, etwas schwächere „Shahed-131“ heißt in der russischen Version „Geran-1“ (Geranie-1). Warum die russische Armee den Kamikaze-Drohnen ausgerechnet Blumennamen gibt, ist nicht ganz klar. Womöglich eine Art schwarzer „Kriegshumor“, eher aber ein bewusster Schritt, um den iranischen Drohnenversand semantisch einzunebeln. Und es hat den Anschein, wie sich übereinstimmenden Meldungen entnehmen lässt, dass Teheran schon bald die noch stärkeren Kamikaze-Drohnen vom Typ „Arash-2“ sowie die ballistischen Kurzstreckenraketen „Fateh-110“ und „Zolfaghar“ zur Verfügung stellt. Ob auch diese Systeme eine russische Kennzeichnung erhalten, wird sich zeigen – die Tendenz jedenfalls geht in diese Richtung.Alles spricht dafür, dass Moskau seine neue Kriegsstrategie der systematischen Schläge gegen Objekte der verwundbaren, kritischen Infrastruktur fortsetzen wird. Die Angriffswellen sind getragen von eigenen Raketen und einem zeitgleichen Einsatz von Drohnen. Letztere sollen durch ihre Zahl die Luftabwehr überfordern, während Erstere durch ihre Angriffswucht für den Hauptschaden sorgen.Wie effektiv westliche Flugabwehrsysteme gegen diese Bündelung sein können, ist bislang offen. Es kommen mehrere Faktoren in Betracht: Wie schnell wird geliefert, wie wirksam sind die älteren HAWK-Systeme? Können sie die kleinen Drohnen überhaupt „sehen“? Wie viele Flugabwehrraketen werden mitgeliefert? Gerade dieser Punkt ist entscheidend, da eine hohe Zahl an Drohnen jedes noch so fortschrittliche Abwehrsystem durch die bloße Quantität überwinden kann. Sind am Himmel mehr Drohnen als Abwehrraketen, ziehen Letztere immer den Kürzeren. Schon bei anderen Konflikten des 21. Jahrhunderts hat sich gezeigt, dass Drohnen einen absoluten Kosten- und Mengenvorteil gegenüber Flugabwehrsystemen haben. Gerade Kamikaze-Drohnen kosten oftmals nur einen Bruchteil dessen, was für eine einzige Flugabwehrrakete aufgebracht werden muss. Mit anderen Worten: Wenn Moskau mit Irans Hilfe mehr Drohnen einsetzt, als der Westen Abfangraketen schicken kann, werden die russischen Angriffe weitergehen. Und sei es mit geringerer Trefferquote.Der gravierende UnterschiedDavon abgesehen, findet gerade eine Premiere statt: Defensive Luftsysteme der NATO stehen im direkten Duell mit den offensiven Luftkapazitäten Russlands. Das konfrontative Verhältnis zwischen sowjetisch-russischen und westlichen Rüstungssystemen ist an sich uralt und wird seit Ende des Zweiten Weltkrieges quer durch alle Weltregionen ausgetragen. Egal ob Vietnam, Jugoslawien, Irak, Syrien oder Libyen – im Hintergrund stand stets das Duell von westlichen Waffen (und Interessen) auf der einen und russischen Ausrüstungen (und Ansprüchen) auf der anderen Seite. Doch gibt es mit dem Ukraine-Krieg einen gravierenden Unterschied. Bei bisherigen Konflikten trafen stets westliche Angriffs- auf russische Flugabwehrsysteme. So ziemlich alle Länder, die in den vergangenen Jahren in der einen oder anderen Weise zum Ziel westlicher Militäroperationen wurden, nutzten eine Luftverteidigung russischer Herkunft.Nun spielt sich das Ganze unter gänzlich veränderten Vorzeichen ab. Russische Raketen werden erstmals westliche Abwehrsysteme überwinden müssen. Unter russischen Militärs heißt es bereits hinter vorgehaltener Hand, dass es für sie eine erstmalige Erfahrung dieser Art geben werde. Für den Westen gilt spiegelbildlich das Gleiche. In keinem Konflikt der vergangenen Jahrzehnte mussten westliche Flugabwehrsysteme gegen schwere Raketen- und Luftschläge eines relevanten Gegners bestehen. Simulationen eines solchen Zweikampfs werden von Militärs beider Seiten natürlich seit Jahren vorgenommen. Jetzt jedoch werden die Tests auf den Schlachtfeldern der Ukraine zur Realität.