Die UNO hat 2008 zum Internationalen Jahr des Planeten Erde erklärt. Also muss es erneut um das Thema Klima gehen, doch zugleich um weit mehr. Die Erde hat nicht nur Fieber, sie leidet auch an Stoffwechselkrankheiten - an Gicht, Rheuma, Diabetes. Dank einer historisch einmaligen, wiewohl nicht abgestimmten Aktion liegen vier Reports vor, die Auskunft geben, warum das so ist.
Botschaft und Timing des Reports, den wir dem Weltklimarat (IPCC) verdanken, erschienen nachgerade genial - zumindest auf den ersten Blick. Das komplexe Thema Klimawandel wurde dreigeteilt, zeitversetzt und an verschiedenen Orten der Welt präsentiert - das sicherte von Februar bis Mai 2007 öffentliche Aufmerksamkeit, das führte mit dem Synthese-Bericht im November 2007 zu einer nie da gewesenen Pr
da gewesenen Präsenz in den Medien, den Effekt des Nobelpreises für Al Gore und den IPCC eingeschlossen. Keineswegs nur Show - im Gegenteil.Die inhärente Spannung des IPCC-Reports hängt eng mit der gewählten Methodik zusammen: Der Weltklimarat arbeitet mit sechs Szenarien, um die mögliche Spannbreite der Klima-Erosion bis 2100 aufzuzeigen. Während der Optimist sich beim Erwärmungsszenario 2,0 bis 2,4 Grad einklinkt, wird der Pessimist beim Szenario 4,9 bis 6,1 Grad landen. Damit verbindet sich zugleich die Zugehörigkeit zu zwei "Lagern" - jenen, die eine Eindämmung (mitigation) des Klimawandels weiter für möglich halten, und jenen, die nur noch an Anpassung (adaptation) denken.Der IPCC ist, was die Aussagen über die Ursachen des Klimawandels angeht (Arbeitsgruppe I), höchst penibel; Unsicherheiten werden mit ausgewählten Begriffen charakterisiert: von high agreement bis medium agreement (hohe bis teilweise Übereinstimmung), von virtually certain bis exceptionally unlikely (ausgesprochen sicher bis außergewöhnlich unwahrscheinlich). Auch im Blick auf die Auswirkungen des Klimawandels (Arbeitsgruppe II) auf die Wirtschaftsbranchen, deren Verletzbarkeit und Reaktionsfähigkeit, ist der Bericht so einfallsreich wie keiner zuvor. Es gibt dabei eine wirkliche Überraschung: die Wälder als Klimastabilisatoren und die "Waldoption" in der Klimapolitik erhalten erstmals die nötige Beachtung. Den regionalen Konsequenzen einer erwärmten Erde gilt eine besondere Typologie, um aus Betroffenen echte Partner einer aktiven Klimapolitik zu machen: Wer weiß, was in der eigenen Region geschehen kann, wird sensibler mit der Klimainformation umgehen.Die Schwächen des IPCC-Berichts liegen im Teil Eindämmung (Arbeitsgruppe III), den man eigentlich mit pro-aktive Klimapolitik umschreiben müsste. Doch dessen Autoren geht es leider nicht um ein konsistentes Konzept internationaler Politik; sie verstehen ihren Beitrag eher als "Vorüberlegungen" - denen zu folgen, bleibt anderen überlassen. Diese Selbstbeschränkung verwundert angesichts aller Dramatik. Warum verständigt man sich weder auf ein striktes Ziel des Klimaschutzes, noch auf konkrete Maßnahmen, zum Beispiel eine Kohlendioxid-Steuer? Weshalb keine Vorschläge, wie die internationalen Institutionen einer effektiven Klimapolitik auszusehen hätten?Wir lesen einen IPCC-Bericht, der die internationale Klimapolitik reformieren sollte, aber selbst Reformbedarf erkennen lässt.Dieses Urteil gilt gleichermaßen, wenn auch in anderer Form für den Bericht des UNDP (UN-Entwicklungsprogramm / s. Glossar), der in kürzester Zeit ins Deutsche übersetzt wurde und den Untertitel trägt Den Klimawandel bekämpfen: Menschliche Solidarität in einer geteilten Welt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts seien wir - heißt es in der Einleitung - mit der "gnadenlosen Dringlichkeit" einer Krise konfrontiert, die Gegenwart und Zukunft miteinander verbinde.Anders als das IPCC legt sich das UNDP bei der Zielvorgabe auf einen Schwellenwert der Erderwärmung von zwei Grad über vorindustriellem Niveau fest, weil nur so gefährliche Klimaeinbrüche vermieden werden können, von denen die Ärmsten der Welt am stärksten betroffen wären. Man will im Gegenzug sowohl CO2-Emissionen besteuern als auch den Handel mit Emissionszertifikaten voranbringen und so handhaben, dass er den Entwicklungsländern zugute kommt. Dann aber verfällt man - wie bei Technofreaks - der Idee so genannter bahnbrechender Technologien, besonders der CO2-Sequestrierung (s. Glossar), statt sich darauf zu konzentrieren, was gerade in Entwicklungsländern Priorität haben sollte: der rasche, umfassende Ausbau erneuerbarer Energien.Es gibt andere Ungereimtheiten, die ein UN-Bericht eigentlich meiden sollte. So widmet man sich zwar ausführlich der Anpassung an den Klimawandel in den Ländern des Südens, macht sich aber keine Gedanken über neue Migrationswellen - die "Klimaflüchtlinge". Man widmet sich sorgfältig dem Problem der Waldvernichtung in Afrika und Lateinamerika, sieht die Lösung aber nur in einem Finanztransfer von Nord nach Süd. Überhaupt findet sich in diesem Bericht nichts, was auf eine durchgreifende UN-Reform hindeutet - ein eklatanter Widerspruch zum einleitenden Wort von der "gnadenlosen Dringlichkeit" einer Krise.GEO-4 wurde vom UNEP (UN-Umweltprogramm) in Zusammenarbeit mit 54 Institutionen erstellt, darunter nur eine deutsche (ein Institut der Uni Kassel). Wer weiß, was in Deutschland an ökologischer Kompetenz vorhanden ist, wer weiß, dass es seit 1992 einen Wissenschaftlichen Beirat für Globale Umweltveränderungen (WBGU) gibt, kann sich nur wundern und wird es bedauern, dass davon nicht mehr ins Spiel gebracht wurde - eine Aufgabe, der sich der Bundesumweltminister hätte verschreiben müssen. Was aber Inhalt, Botschaft und Aufmachung des Berichts angeht, wäre Bedauern verfehlt.Mit GEO-4 ist ein Meilenstein globaler ökologischer Berichterstattung gesetzt, der höchstes Lob verdient, allein schon, weil ein einzigartiges Datenportal angeboten wird. Sein Anspruch ist darüber hinaus gewaltig: GEO-4 soll eine umfassende, verlässliche, wissenschaftlich fundierte und politik-relevante Bestandsaufnahme der Interaktionen zwischen Umwelt und Gesellschaft liefern und einen Ausblick in die nahe und mittlere Zukunft ermöglichen. Es wird schnell klar, dass Umweltpolitik mehr ist als nur Klimapolitik, dass neben der De-Karbonisierung auch die De-Materialisierung der Wirtschaft ansteht, weil die Erde nicht nur Fieber hat, sondern an Fettsucht und der Zuckerkrankheit leidet.Schließlich wartet der Bericht mit politisch interessanten Rezepturen auf - genauer mit vier Szenarien, die Erzählungen an empirische Daten heften und Markets First, Policy First, Security First und Sustainability First (Nachhaltigkeit zuerst) heißen. Höhe- und Endpunkte des Umweltwandels sind angesichts dieser vier Optionen sehr verschieden: Nur auf die Kraft des Marktes zu setzen, hat andere Konsequenzen, als eine starke Umweltpolitik zu betreiben; der Sicherheitsidee zu huldigen, hat andere Effekte, als strikter Nachhaltigkeit Priorität zu geben. GEO-4 wird so nicht nur zu einer Herausforderung für strategisches Denken - dieser Report bereitet das Terrain für einen alternativen individuellen und sozialen Umgang mit der Umwelt. Das ist Wissenschaft, wie sie sein soll.In GEO-4 schneidet Europa vergleichsweise gut ab und kann das auch durch den eigenen - europäischen - Umweltbericht bestätigt finden: EEA-4 ist freilich ein Report, bei dem es nicht allein um die EU, sondern um Pan-Europa geht - 56 Staaten vom Atlantischen Ozean bis in Russlands Osten.EEA-4 endet anders als GEO-4. Im letzten Kapitel werden vier Sektoren analysiert, die den Umweltwandel maßgeblich beeinflussen: Landwirtschaft, Transport, Energieversorgung und Tourismus. Diese Branchen werden strikt auf Nachhaltigkeit durchleuchtet, auf die sich Europa ernsthafter einlassen muss, trotz gewisser umweltpolitischer Erfolge.Erstes Fazit: Das von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Jahr des Planeten Erde hat also mit einer guten Nachricht begonnen. Die Berichterstattung über seinen Zustand und Wandel ist erheblich besser geworden, reicht aber noch nicht. Allenthalben lässt sich eine große Scheu erkennen, auch politisch Position zu beziehen. Wo irreversible Schäden drohen, muss man da nicht Farbe bekennen?Ein zweites Fazit lässt sich für Deutschland ziehen, das immer wieder als "Vorreiter" des internationalen Umweltschutzes apostrophiert wird. Wenn das so ist, und wenn viele der in diesen Reports behandelten Umweltnöte globaler Natur sind, wäre dann nicht grundsätzlich über die Position Deutschlands im UN-System nachzudenken? Vermutlich würde schnell klar: Die politische Elite des Landes sollte sich für mehr UN-Umweltkompetenz einsetzen, statt seit 17 Jahren vergeblich der Idee anzuhängen, man müsse unbedingt ständiges Mitglied im Sicherheitsrat werden. Schließlich: Die vorgestellten Berichte sind so inhaltsschwer und zukunftsträchtig, dass sie auch dazu anregen, unser Bildungswesen zu reformieren. Man muss nicht auf Harvard schielen, bevor sich eine Exzellenzinitiative an deutschen Hochschulen zur Erforschung der globalen Wandels bildet.Udo Ernst Simonis ist Professor für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin. Eine längere Fassung dieses Artikels erscheint in Vereinte Nationen, Heft 1, 2008.GlossarWeltklimarat (IPCC)Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) gegründet und analysiert als zwischenstaatliche Sachverständigengruppe den Klimawandel. Der IPCC soll die Risiken der globalen Erwärmung beurteilen und Strategien entwickeln, um darauf zu reagieren. Sitz des IPCC-Sekretariats ist Genf.UN-Entwicklungsprogramm (UNDP)Immerhin ein Exekutivausschuss innerhalb der UN-Generalversammlung, weshalb der derzeitige UNDP-Administrator Kemal Dervis¸ auch das dritthöchste Amt in der UN-Hierarchie bekleidet, unmittelbar nach dem UN-Generalsekretär und seinem Stellvertreter. Der UNDP-Exekutivausschuss rekrutiert Vertreter aus 36 Ländern, die nach einem Rotationsprinzip eingesetzt werden. Der Hauptsitz ist in New York. Das UNDP wird vollständig aus freiwilligen Beitrgen der UN-Mitgliedsstaaten finanziert.CO2-SequestrierungGemeint ist die Speicherung von Kohlendioxid in der Erde - in tiefen Aquiferen, stillgelegten Kohlezechen und erschöpften Gaslagerstätten. Der ökonomische Anreiz für dieses Verfahren: Wenn Unternehmen künftig das von ihnen produzierte CO2 unter Tage ablagern, müssen sie weniger Emissions-Zertifikate kaufen und können Geld einsparen. Speicherkapazitäten sind vorzugsweise im norddeutschen Becken gegeben. Überall dort sind Gesteine vorhanden, in denen Kohlendioxid gespeichert werden könnte.Die QuellenIntergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) Climate Change 2007, Vol. I, II, III, Cambridge: Cambridge University Press, 2007; Synthesis Report, Vol. IV, Geneva: IPCC, 2007, 100 S.United Nations Development Programme (UNDP) Bericht über die menschliche Entwicklung 2007/2008, Berlin: DGVN, 2007, 440 S.United Nations Environment Programme (UNEP) Global Environment Outlook - GEO-4, Valetta: Progress Press, 2007, 540 S.European Environment Agency (EEA) Europe´s Environment. The Fourth Assessment, Copenhagen: EEA, 2007, 452 S.
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