Oh Herr, wirf Hirn vom Himmel

Kultur statt Krise Überlegungen für eine umfassende Aufstockung der Kulturaufwendungen

Das teils mitleidige, teils süffisante Lächeln, mit dem die Geisteswissenschaften in der westlichen Welt mehr und mehr bedacht werden, nötigt sie zusehends ihren Wissenschaftsstatus und ihre Relevanz für die Gesellschaft zu belegen. Selbst in Feuilletons sehen sie sich dem Spott ausgesetzt, und Politiker stellen geisteswissenschaftliche Forschung, wie jede andere Form der Kultur, zunehmend zur Disposition. Aber wie lässt sich die geforderte Legitimation formulieren? Weite Kreise der bildenden Kunst stehlen sich klamm und heimlich davon und proben den Schulterschluss mit der Unterhaltungsindustrie. Die Geisteswissenschaften sehen sich allein gelassen und müssen den Beweis, dass das Lesen von Kant und Kleist relevante Erkenntnisse für die Zukunft bringt, ebenso schuldig bleiben, wie nachhaltige Studien darüber, in welcher Form des Profits oder des Wirtschaftswachstums sich die Bildanalyse eines Rembrandts niederschlägt.

Natürlich bringt es wohl auf den ersten Blick wenig Standortvorteile für ein Land, wenn über Themen wie "Römische Kulte im Donauraum", "Die Stellung der Frau in Japan" oder die "Variationswerke Max Regers" geforscht wird. Solche Themen klingen in vielen Ohren entbehrlich und können mit Fächern nicht mithalten, die das Mäntelchen ökonomischer Notwendigkeit umgehängt haben und mit Begriffen wie "Wertschöpfungsmanagement", "Corpored Governance", "Ultraspurenanalytik" oder "Moleküldesign" aufwarten können.

Kultur wird immer noch als Dekoration empfunden, die man sich leistet, wenn man alles andere hat. Investiert man in Kultur und Kunst, dann ist das die Bestätigung dafür, dass sonst keine Wünsche mehr offen sind. Diese Funktion der Kunst hat sich in den Köpfen festgefressen. Man kann also auch Kunst kaufen, wenn man in Wahrheit noch nicht alles hat, um anderen trügerisch anzudeuten, man hätte den Punkt erreicht, an dem man normalerweise mit dem Kunsterwerb beginnt. Kurz: Man signalisiert durch Kunst anderen, das man wirtschaftlich erfolgreich war.

Das lässt sich leicht auf den Staat übertragen. Entsprechend vermittelt der Ausverkauf der Kunst und öffentliche Debatten um Kulturhaushaltskürzungen sofort den Eindruck einer Krise. Solche Debatten zeigen der Bevölkerung - die Kunst als Luxusgut versteht) - drastisch, dass die Zeiten des Überflusses vorbei sind. Mit jeder Theaterschließung, jeder Etatbeschränkung in Museen und jeder Abwicklung einer kulturellen Forschungs- oder Vermittlungseinrichtung steigt das Gefühl einer drohenden Depression. Auch Menschen, die kein Interesse an Kunst haben, die keine Theater, Konzerte und Museen besuchen, müssen durch derartige Beschneidungen den Eindruck des Niedergangs gewinnen, der zwangsläufig zu Konsumzurückhaltung und zu Sparmentalität und damit zu rückläufiger Konjunktur und "Minuswachstum" in der Wirtschaft beiträgt.


Ist es nicht schon aus diesem Grund ein elementarer psychologischer Fehler, wenn man die Beschneidung des Kulturhaushalts in Zeiten der Krise vollzieht? Zudem stellt sich die Frage, ob in Zeiten wachsender sozialer Spannungen der Kulturhaushalt nicht ohnehin aufgestockt werden sollte, um diese zu mildern. Kulturelle Bildung führt unbestritten zu einer verminderten Gewaltbereitschaft, zu vielseitigeren und vor allem kreativeren Menschen und zu einer Steigerung des abstrakten Denkpotenzials.

Ökonomie und Kultur bedingen sich. Sie sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Investitionen in Kultur zahlen sich auch deshalb aus. Nicht nur durch psychologische Effekte und durch eine "Aufhübschung" des Umfeldes, sondern vor allem durch eine Stärkung der sozialen Komponenten einer Gesellschaft, die den Diskurs, die Kommunikation im Allgemeinen fördern. Meine These ist, dass mittelfristig steigende Ausgaben für Kunst und Kultur massive Einsparungen vor allem im Sektor Sicherheit möglich machen.

Dass fehlende Bildung, Depression und Labilität die Kriminalitätsstatistik beeinflussen, ist schwer zu ignorieren. "Ein besonderes Risiko für Kriminalität entsteht dann, wenn bei einer Person mehrere Faktoren zusammenkommen, beispielsweise ein tiefer sozialer Status, soziale Desintegration, schlechte Ausbildung und geringe Zukunftsperspektiven", verlautet es aus dem Sozialbericht der Schweiz. Und eine Studie der Stadt München kommt zur Erkenntnis, "dass eine Verbesserung der Lebenschancen bildungsmäßig benachteiligter junger Menschen - und somit die Prävention von Kriminalität - insbesondere im Bereich der Kindergärten, Grund- und Hauptschulen, aber auch beim Übergang Schule-Beruf ansetzen muss."

In Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit würde schon die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, zweifellos zu größerer Zufriedenheit führen, größere Zufriedenheit könnte zu verminderter Aggression, geringere Aggression zu weniger Kriminalität führen. Als Albert Schweitzer 1923 seine Schrift Verfall und Wiederaufbau der Kultur vorlegte, sah er die Überbeschäftigung jedes einzelnen, die ihn ins Kollektivistische treibe, als zentrale Ursache für die zunehmend kulturhemmende Unselbstständigkeit, Verrohung und Manipulation der Gesellschaft. Die fehlende Zeit für eine Beschäftigung mit sich selbst leiste, so Schweitzer, der straffen Organisation der Massen und ihrer Verdummung Vorschub. "So sind wir in ein neues Mittelalter eingetreten. Durch einen allgemeinen Willensakt ist die Denkfreiheit außer Gebrauch gesetzt, weil die Vielen sich das Denken als freie Persönlichkeiten versagen und sich in allem nur von den Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften leiten lassen." In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist es daher schlicht eine Notwendigkeit, den Menschen selbstständiges Denken wieder beizubringen, und den Prozess der Entmündigung zu stoppen. "Noch ist keine Einsicht in unser geistiges Elend vorhanden", schrieb Schweitzer. "Von Jahr zu Jahr wird das Verbreiten von Meinungen mit Ausschaltung des Denkens von den Kollektivitäten immer weiter ausgebildet. Im Kriege wurde die Disziplinierung der Gedanken vollständig. Damals setzte sich die Propaganda definitiv an die Stelle der Wahrheit. Mit der preisgegebenen Unabhängigkeit des Denkens haben wir, wie es nicht anders sein konnte, den Glauben an die Wahrheit verloren."


Kultur wird hier also als Zivilisierungsmittel gesehen. Doch das ist selbst anfällig. Im Konfliktfall ist Kultur auch geeignet, die Verachtenswürdigkeit der Gegner zu illustrieren. So verteidigten die Nationalsozialisten im II. Weltkrieg nach den Worten ihres Vordenkers Alfred Rosenberg im wesentlichen europäisches Kulturgut. "Die deutsche Wehrmacht ist heute auch Front des deutschen und freien europäischen Geistes", führt er noch 1944 aus. "Sie verteidigt in Ost und West Perikles und Augustus genau wie Goethe und Beethoven." Die Bilder der Zerstörung der zum Weltkulturerbe gehörenden Buddhastatuen in Afghanistan gingen 1992 um die Welt und belegten den Fanatismus und die Willkürherrschaft der Taliban. Doch deren Gegner duldeten bereits im nächsten Krieg gegen die auserkorenen Feinde der Zivilisation die totale Plünderung und Verwüstung der Kulturstätten des Irak und der Museen, vor allem des Nationalmuseums in Bagdad, aus dem wie es zunächst hieß, allein 170.000 Kunstwerke verschwunden seien. Später wurde diese Zahl von amerikanischen Gutachtern auf "nur einige Zehntausend" konkretisiert. Allerdings war nicht zu übersehen, dass zumindest die erste Plünderungswelle des Irak-Museums von langer Kenner-Hand vorbereitet wurde, bevor Vandalismus der Sammlung den Rest gab. Am Ende war dann davon die Rede, die Mitarbeiter des Museums selbst hätten möglicherweise die Plünderungen eingefädelt. Die Propaganda-Maschinerie lief und der wahre Sachverhalt wird sich wohl kaum mehr klären lassen. Eines blieb jedoch unbestritten: Während die amerikanische Armee die wirtschaftlich bedeutenden Ölquellen und Gebäude wie das Ölministerium sicherte, wurden Land und Kulturgüter zwischen Euphrat und Tigris zerstört und damit diese "Wiege der Zivilisation" vernichtet. Universitäten und Archive, sowie die Nationalbibliothek mit Hunderttausenden von Büchern und Manuskripten gingen in Flammen und Rauch auf.

Im Kampf zwischen Wirtschaft und Kultur ist es letztlich immer die Kultur, die unterliegt. Ihre Bedeutung für eine Gesellschaft kann dennoch nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Wahrnehmung und Interpretation von Kunst, die Schulung des Blicks und das Stellen der richtigen Fragen sollten erlernt werden, denn das fördert grundlegende menschliche Fähigkeiten. Zum einen die Konzentration auf fremdbestimmte Abläufe, zum anderen die Erforschung eines Gegenstandes in einem selbstgesetzten Zeitrahmen. Das Überleben eines Menschen im Alltag wie auch einer Nation im globalen Kontext wird erst durch die Ausbildung dieser Fähigkeiten möglich. Wir brauchen also eine konstante Zahl von Forschungsstätten, Museen, Konzerthallen, Theatern und eine bessere Vermittlung kultureller Werte. Dann wird die Zahl der Menschen steigen, die sich in den Grenzen ihrer Existenz besser zurechtfindet, denn das Bild ist nicht zuletzt eine elementare und sinnliche Brücke zwischen Kunst und Wissenschaft.

Zuletzt sei Kultur noch als Wirtschaftsfaktor im Tourismus erwähnt. Wer würde schon nach Kairo reisen ohne die Pyramiden, nach Washington ohne seine Museen oder nach Florenz ohne die Schätze, die die Renaissancemetropole zu bieten hat? Ohne die Investitionen der Handwerker, Bankiers und Politiker, allen voran der Medici, die langfristig atemberaubende Früchte trugen und von denen die Einwohner der Stadt bis heute profitieren, wäre Florenz ein Provinznest. Stattdessen spülen die Besucher Jahr für Jahr hunderte Millionen in die Kassen. Florenz hat nur etwa 450.000 Einwohner und über 4 Millionen Besucher im Jahr. Jedes einzelne der rund 50 Kulturdenkmäler der Stadt spielt damit (bei längst abgeschriebenen Herstellungs- und vergleichsweise geringen Wartungskosten) Jahr für Jahr Millionen ein.

Um die Spirale der Gewalt, der Kriminalität und der Dummheit zu stoppen, bedarf es offenbar nur einer effektiven Strategie. Ein Drei-Stufen-Plan wäre hier zu empfehlen: Die erste Stufe fällt in den Zeitraum einer Legislaturperiode und könnte daher auch bei Politikern auf Wohlwollen stoßen, die nicht über vier Jahre hinaus denken wollen.

1. Stufe: Innerhalb von 3 Jahren wird die Schulbildung so umgestellt, dass Qualitäten wie Urteilsbildung, Geschmack, Abstraktionsfähigkeit, angenehme Umgangsformen, Kommunikationsbereitschaft und soziale Kompetenz gefördert werden. Dazu werden die schulischen Schwerpunkte auf Forschung, Kunst, Literatur, Sprache und Musik gelegt.

2. Stufe: Innerhalb von 30 Jahren wird die Kriminalität um vorsichtig geschätzte 20 Prozent reduziert. Es wird weniger Polizei bereitgestellt, es werden weniger Gefängnisse gebaut und die Überwachungssysteme minimiert. Dazu werden neue Museen gebaut, drei weitere staatliche Kultur-Fernsehsender ohne Quotenkontrolle eingerichtet, das kulturelle Angebot vor allem außerhalb der Metropolen wird verdreifacht und die Fähigkeit zur Beschäftigung mit sich selbst angesichts wachsender Arbeitslosenzahlen geschult.

3. Stufe: Innerhalb von 300 Jahren wird durch die Stufen 1 und 2 ein Reichtum an Kulturgütern neu geschaffen. Bald werden wir reich sein, wenn wir mehr Geld für Kultur und Bildung ausgeben. Es ist an der Zeit konkrete Entschlüsse zu fassen und Pläne zu schmieden zur weitergehenden Befriedung der Welt. Etwa die Anmietung des Vatikans (44.000 m2) als Zentrum zur Überwindung monotheistischer Religionen, die Wiedererrichtung der Twin-Towers als internationale Jugendherberge oder notfalls auch ein deutschlandweites Biertrinken zu Gunsten des Regenwaldes. Selbst wenn sich diese Projekte nicht sofort werden umsetzen lassen, man sollte sie schon jetzt durchdenken und strategisch gut vorbereiten, bis die Gelder in Kürze zur Verfügung stehen.

Boris von Brauchitsch, geboren 1963 in Aachen arbeitet als Autor, Kurator und Fotograf in Berlin. Er leitete das Kunsthaus Kaufbeuren. Zuletzt erschien von ihm 2002 der Band: Kleine Geschichte der Fotografie. In Berlin-Mitte veranstaltet er die Kunst-Lounge "Pflege aller Rassen".


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