A
Alphaeltern Mein Vater (Jahrgang 1928, Volksschule, Schwarzmarkterfahrung) war natürlich kein Helikoptervater. Er lobte mich, weil ich sehr gut seine Unterschrift fälschen konnte – zum Beispiel für die Entschuldigungszettel (konnte an Sozialkunde nicht teilnehmen wegen Übelkeit). Abitur machte ich auf eigene Faust, dafür musste ich beim Rektor der Kleinstadt-Realschule mein größenwahnsinniges Vorhaben erklären. Am Gymnasium glänzte ich durch jahrelange körperliche Anwesenheit in Latein, weshalb mir an der Uni das Latinum fehlte, das ja ein probates Selektionsmittel der 90er Jahre gewesen ist. Heute bin ich eine Alphamutter, wie sie in der ➝ Zeitung steht. Warum bin ich das? Weil ich dem westdeutschen Abitur in seiner lustigen Old-School-Art doch ein paar Tränen nachweine. Mein Sohn soll „Optionen“ haben und Zeit für die Rebellion – gegen was auch immer. Katharina Schmitz
B
BeratungFrau K. ist verzweifelt. Sie berät für das Arbeitsamt Schüler auf dem Weg zum Abitur. Sie wissen gar nicht, was das heißt: Abitur machen, studieren. Sie mag die jungen Leute. „Ich suche beim Beraten nach den Stärken der Bewerber und nach ihren Interessen“, sagt sie. Dann macht sie eine Pause. „Aber wenn du nicht weißt, wo du hinwillst, dann musst du dich nicht wundern, wenn du an einem falschen Ort ankommst.“ Für die Frau vom Arbeitsamt ist der Boom des Abiturs eine kleine Katastrophe. Es kommt ihr vor wie Schwindsucht – alles andere verliert an Wert. Das ist schlecht. Für die Unternehmen genauso wie für manche Bewerber. „Die Betriebe suchen händeringend nach Azubis“, schimpft Frau K., „aber die hocken alle in den Fachoberschulen rum.“ Man muss mit den jungen Leuten über Dinge sprechen, die sie wirklich glücklich machen. „Ich frage die Schüler zum Beispiel: ‚Lernst du gerne und schreibst du gerne Prüfungen?‘ Das muss man auf der Uni nämlich machen.“ Ohne Abitur ist dann doch vieles einfacher. Christian Füller
D
Dreigliedriges SchulsystemDie deutsche Bildungspolitik ist vieldiskutiert. Während die verantwortlichen Politiker am Lob des deutschen Sonderwegs festhalten, hagelt es Kritik. Das dreigliedrige Schulsystem müsste eigentlich viergliedrig heißen, weil sich seit den 1970ern zu Gymnasium, Haupt- und Realschule der vierte Typus Gesamtschule gesellt hat. Das Problem zu früher Selektion und des Abhängens jener anderen, die nicht das Abitur anstreben, ändert das aber nicht. Vor einigen Jahren rügte sogar ein Menschenrechtsinspektor der Vereinten Nationen das deutsche Schulsystem als hochgradig ungerecht.
PISA, IGLU und andere Schulstudien unterstreichen, dass der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg immens ist. Noch immer besuchen Kinder aus ärmeren Verhältnissen viel seltener das Gymnasium als etwa Akademikerkinder. Das liegt vorrangig an der frühen Trennung der Schüler im Übergang von der Grund- zur weiterführenden Schule nach der vierten Klasse (in Berlin und Brandenburg nach Klasse sechs): Lehrer kalkulieren bei ihrer Schullaufbahnempfehlung die mögliche oder fehlende Unterstützung des Elternhauses mit ein, was Schranken setzt, statt Chancen zu ermöglichen. Tobias Prüwer
E
Einstein Weder für das Taxi noch für die Politik braucht man das Abitur, hat zumindest Joschka Fischer bewiesen. Aber für die Wissenschaft? Albert Einstein brach die Schule mit 15 Jahren ab, da er mit den Lehrern nicht zurechtkam. Er hatte zwar gute Noten, besonders in Mathematik und den Naturwissenschaften, doch er galt auch als respektlos. Irgendwann forderte ihn sein Klassenleiter auf, die Schule zu verlassen. Einstein gab auf und wollte in Zürich studieren, fiel allerdings durch die Aufnahmeprüfung. Also ging er noch mal zur Schule und absolvierte die Schweizer Matura, vergleichbar mit dem Abitur. Seine Abneigung gegenüber jeglichem Autoritätsglauben hat er behalten. Wahrscheinlich ermöglichte das eigenständige Denken erst seine Entdeckungen in der Physik – und machte aus ihm einen überzeugten Antifaschisten, Sozialisten und Pazifisten. Felix Werdermann
H
Heckscheiben Es war einmal en vogue, seinen Bildungsgrad prominent auf die Heckscheibe zu kleben: Wenn man das Abitur hatte. „Abi 98“ stand dann da zum Beispiel. Das sah seltsam aus und beschränkte das Sichtfeld. Ohne Abitur wäre das Leben hier an Durchblick reicher und an Geschmacksentgleisungen ärmer. Denn neben dem Heckscheibentattoo sind da Abischerze und -bälle, die, wenn auch aus anderen Gründen, die Sicht trüben und sich am Rande des guten Geschmacks bewegen. Diese Moden bleiben ohne Abitur erspart. Benjamin Knödler
M
Michael MüllerSpitzenpolitiker ohne Abitur sind höchst selten: Über 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten haben die Hochschulreife. Auch in der Landespolitik sind sie in der Mehrzahl. Eine Ausnahme ist Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. Er ging aufs humanistische Gymnasium, scheiterte dort aber nach eigener Aussage an seiner Faulheit. Also wurde er nach der mittleren ➝ Reife Drucker wie der Vater. Seine Laufbahn war nie Thema, bis der scheidende Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann, Müllers Tätigkeit als Kultursenator rügte: Er sei erst ein Mal in der Oper gewesen und das nicht mal freiwillig. Müller verbat sich diesen dünkelhaften Ton: Einem Dr. Müller hätte Peymann so etwas wohl kaum zu sagen gewagt. Sophie Elmenthaler
N
NachholenLebenslanges Lernen ist ein Diktat der Zeit. Fehlende Weiterbildung gilt heute fast als Arbeitsverweigerung. Es gibt aber auch persönliche Gründe, noch einmal auf- oder umzusatteln. Wer das Abitur nachholen will, macht das oft auf dem zweiten Bildungsweg. „Schule für Erwachsene“ wird dieser auch genannt. Hauptmotivation ist ein angestrebtes Hochschulstudium. Dazu stehen Abendgymnasien, Volkshochschulen, OnlineKollegs oder auch ein Fernstudium zur Verfügung. Oft organisieren das private Träger. Dieser Bildungsweg ist gebührenfrei und wird mitunter durch die Ausbildungsförderung BAföG unterstützt. Für viele ist diese Art, das Abitur neben der beruflichen Tätigkeit zu absolvieren, aus ersichtlichen Gründen schwierig zu bewerkstelligen. Aus diesem Grund gibt es die Kollegs – wie das Weimarer Thüringenkolleg – als Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Nach bestandenem Eignungstest kann man an diesen innerhalb eines BAföG-finanzierten dreijährigen Unterrichts das Abitur erwerben. Tobias Prüwer
Q
Quote Die Geschichte des Abiturs ist eine der Quoten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts suchten sich die Akademien ihre Bewerber nach je eigenen Vorprüfungen aus. Das war den Preußen zu zersplittert. 1834 erließ der König die Order für ein Reglement der Maturitätsprüfung. Das Abitur war geboren. Damals ergatterte nur ein Prozent pro Jahrgang die Hochschulreife. Eine Zahl, die nur sehr gemächlich anstieg. Dass die 68er den großen Panther-Sprung für die Mehrheit geschafft hätten, ist ein Märchen. 20 Prozent lautete ihre Quote. Den Geist ließ erst die PISA-Studie aus der Flasche. Danach ging die Zahl der Abiturienten steil nach oben, bis auf 60 Prozent heute. In der Starnberger Republik oder in Performer-Stadtteilen wie dem Prenzlauer Berg sind es gar 80 Prozent. Deswegen soll jetzt eine Quote kommen. In der Wirtschaft wird sie ausgeheckt, im Bundestag denkt mancher darüber nach. In den Ländern lachen sie, wenn sie das hören. Denn sie wissen: Träume lassen sich nicht quotieren. Die Eltern werden sich den Weg zum Abitur nicht mehr wegnehmen lassen. Christian Füller
R
Reife„Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann eine Gedichtanalyse schreiben. In vier Sprachen.“ So twitterte Anfang des Jahres eine Kölner Schülerin. Sie sprach einen wahren Punkt an. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass man nach dem Abitur, wenn der letzte Lernmarathon geschafft ist, für das Leben gerüstet sei. Die allgemeine Hochschulreife gilt eben nicht zwingend für den Rest des Lebens. Wer schon vor dem Abitur die Schule verlässt, wird auch manchmal schneller erwachsen.
Während ich in der 13. Klasse etwa über zu schwere Klausuren jammerte, hatten meine Freunde, die schon mitten in der Ausbildung steckten, mit ganz anderen Dingen zu tun. Sie hatten bereits erlebt, was es heißt, eine Bewerbung zu schreiben und Vorstellungsgespräche zu überstehen, bei denen es um mehr als nur einen Ferienjob ging. Sie hatten das erste eigene Gehalt, mit dem sie aber auch zu haushalten hatten. Von Steuern, Miete und Versicherungen hatten sie durchaus etwas Ahnung und für einige ergab sich die Frage, ob sie sich schon in einer Gewerkschaft organisieren sollten. Kurz, sie standen auf eigenen Beinen und lernten praktisch, was man im Unterricht nur manchmal theoretisch lernte. Natürlich macht man diese Erfahrungen früher oder später auch mit Abitur, zumeist aber eben etwas später. Benjamin Knödler
S
Studieren Dass das Bildungssystem in Deutschland einige Hürden aufweist, ist bekannt. Zum Beispiel das Abitur, als Türöffner für die Hochschulen. Lange galt die Devise: „Ohne Abi keine Uni“ (➝ Quote). Doch das ändert sich. So hat in den vergangenen Jahren die Zahl der Studienanfänger ohne Abitur zugenommen. Das belegen Zahlen des Centrums für Hochschulentwicklung. 2012 hatten demnach 2,52 Prozent aller Studienanfänger kein Abitur oder Fachabitur. Zehn Jahre zuvor lag deren Anteil bei lediglich 0,90 Prozent. Zugleich locken auch zunehmend Fernunis, die ein Studium sogar während der Berufstätigkeit und ohne Abitur als Voraussetzung anbieten. Diese Entwicklung ist auch das Ergebnis politischer Entscheidungen, die den Hochschulzugang für Nichtabiturienten erleichtern sollten. Ein sehr vernünftiger Gedanke, denn warum sollte ein Mensch direkt nach dem Abitur besser für ein Ingenieursstudium geeignet sein als ein Mechaniker, der bereits Jahre an Berufserfahrung mitbringt? Unversitäten werden dadurch endlich etwas offener. Das ist eine Entwicklung, die jedoch unbedingt noch mehr gefördert werden sollte. Benjamin Knödler
Z
ZeitungDie Abizeitung krönt den Abschluss. Mögen Freud und Leid von Abiball und -streichen aus der Erinnerung geraten (➝ Heckscheiben): Dumme Lehrersprüche und picklige Fotos, Zukunftsoptimismus und Großmäuligkeit werden für später dokumentiert. In meinem Fall war die Abizeitung wegweisend. Irgendwie musste die Zeitung gemacht werden, nur fanden sich kaum Freiwillige. So blieb die Hauptarbeit unter anderem an mir hängen. Dabei wurde mir klar, dass ich trotz grottiger Deutsch-Leistungskurs-Noten – „blümerant“ bescheinigt die Lehrerin – Spaß am Textefabrizieren hatte. Wenn Sie sich über diesen Text ärgern, dann geben Sie bitte der Abizeitung und faulen Mitschülern die Schuld. Tobias Prüwer
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