Antisemitismus-Vorwurf: Ohne Maß und Sinn

Debatte Einen schwereren Vorwurf gibt es hierzulande nicht. Wie er verwendet wird, ist schlimm
Ausgabe 49/2021
Eine Israel-Flagge vor dem Landtag in Düsseldorf
Eine Israel-Flagge vor dem Landtag in Düsseldorf

Foto: Michael Gstettenbauern/Imago

Antisemitismus ist mehr als Ressentiment. Wer ihn befördert, dem wird berechtigt die Tür gewiesen. Zumal hierzulande verweist er auf den Horror des Holocaust. Viel ist geschehen in der abgelaufenen Legislatur. Es gibt den „BDS-Beschluss“ des Bundestags. Beauftragte von Bund wie Ländern „sensibilisieren“ – und eine verzettelte Debatte jagt die nächste.

Halle entging 2019 knapp einem antisemitischen Massaker. Und doch erscheinen jene Debatten zunehmend als Blame Game: viel Eigenleben, wenig Maß und Sinn. Schon vor jeder faktischen Klärung erwies sich etwa die Causa Gil Ofarim als Exempel einer Identitätspolitik, in der eine gesinnungstüchtige Gemeinde allen, die sich als Opfer präsentieren, unbesehen die Definitionsmacht übers Geschehen zuspricht.

Vorwürfe brauchen da keine Referenzen mehr. Die Fremdmarkierung allein schafft den Mehrwert, zu den Guten zu zählen. Verbunden ist damit eine Degradierung der Erkenntnis: Einst konnte man über Sacherklärungen streiten, die etwa Adorno bot: zur Ideologiestruktur des Antisemitismus, zu seinen sozialen Umständen, zu den Dispositionen seiner Träger. Heute dient solches Wissen als Pool an Versatzstücken, aus dem man sich nach Gusto bedient. Die Öffentlichkeit hat sich in die Sphäre der Twitterdenunziation verwandelt.

Fast scheint es, als seien strategische Vorwurfsgemeinschaften entstanden. Im „Team Neocon“ nehmen sich Leute wie Henryk M. Broder lieber Ökos, Migranten und Migrantenversteher vor als AfD-Kameraden, die teils auf der Ersatzbank sitzen. Im Sommer skandalisierte ein „Team Linksliberal“ eine Wahlkampfanzeige als antijüdisch, auf der Annalena Baerbock mit Zehn Geboten drohte. Stellvertretend für dieses Team sah sodann die Autorin Carolin Emcke in antifeministischen, querdenkenden oder klimaleugnenden Polemiken gegen sich selbst einen „strukturellen“ Antisemitismus – und kassierte ob des „Vergleichs“ gleich selbst das Verdikt.

Derweil diffamiert ein „Team Neoliberalismus“ à la Hans-Werner Sinn Kritik an Finanzkapital-Exzessen als Antisemitismus – wobei das Argument vom obskuren „Team Antideutsche“ stammt, das so einst „richtige“ von „falscher“ Kapitalismuskritik scheiden wollte. Mal überlappen sich die Agenden, mal kollidieren sie. Dann neigt man zur Retourkutsche – und kontert ein bedenkenswertes Verdikt wie das gegen das Raunen eines Hans-Georg Maaßen vom „Globalismus“ mit dem absurden gegen Emcke.

Geteilt wird die Methode „Bildersehen“: Aus jedem Symbol, das womöglich auch von Antisemiten gebraucht werden könnte – das Bild einer Krake, ein Halbsatz mit „abgehoben“ –, wird assoziativ der Antisemitismus selbst, auch wenn von Juden nicht die Rede ist. Da der Antisemitismus höchst parasitär war und ist und sich mit allerhand Inventar ausstattete, kann alles Mögliche plötzlich „antisemitisch“ sein.

Der Bundesbeauftragte Felix Klein nannte den pro-palästinensischen Philosophen Achille Mbembe antisemitisch, nicht aber den Globalismus-Schwurbler Maaßen, der CDU-Mitglied und dezidiert „für Israel“ ist. Wenn Nemi El-Hassan, Kind palästinensischer Flüchtlinge, keine Naturwissenschaftssendung moderieren darf, weil sie als Jugendliche auf einer fragwürdigen Demo war, zielt das auf ihre Verbundenheit mit den Palästinensern: Die Neuheit der Spielzeit 2017 – 2021 war, dass das tonangebende „Team Staatsräson“ zunehmend auch Schiedsrichter ist. Das führt zu wenig Gutem. Ein „Team kritische Aufklärung“ sollte übernehmen.

Gerhard Hanloser publizierte 2021 den Sammelband Linker Antisemitismus?

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Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

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