Ohne Meckern geht es nicht

Sachlich richtig Fünf-Minuten-Predigten, fehlender Bierpinsel und das berühmteste Berlin-Buch. Literaturprofessor Erhard Schütz stellt neue Bücher über die deutsche Hauptstadt vor

„So wenig es eine Philosophie für Haribo-Lakritze oder Mercedes-Limousinen geben kann, so wenig gibt es eine ‚Berliner Philosophie‘. Je inflationärer das Etikett, umso geistloser das Resultat.“ – philosophiert Norbert Kostede, früher politischer Redakteur bei der Zeit, jetzt Publizist, in einem Büchlein, das das intellektuelle Profil Berlins vermessen will, auf schmalen 117 Seiten. Ist das vermessen? Die Notiz- und Skizzlein widmen sich dem ortsansässigen Um- und Untrieb, der Gedenk- und Erinnerungskultur zwischen altem Fritz und Mauer, der modernen Demokratie unter der neuen Kuppel des alten Reichstags oder dem modernen Liebesleben. Diese Fünf-Minuten-Predigten sind mal mehr trefflich, mal etwas trieflig. So wie der Berliner Denkkiez halt. Und für sieben Euro, warum nicht?

Ohne Meckern jeht hier jarnüscht: Da fehlt bestümmt wat! Doch was ist schlimmer, dass Steglitzer Kreisel und Bierpinsel tatsächlich fehlen oder Park Inn und Beisheim Center tatsächlich drin sind? Ja, und die Karten sind schon arg klein und trist. Aber ansonsten nüscht zu meckern: Reclams Architekturführer durch Berlin ist nicht nur brusttaschen­kompatibel, sondern bei aller gebotenen Knappheit stets informativ und meist auch prägnant wertend. Davon kann man sich leiten lassen. Und Steglitz muss man halt auf eigene Faust erkunden.

Startup, creative class, inventing the future, technological it-place. Dieses Mantra kann man nun zu einem schönen Gebetskettchen aus älteren Perlen beten: Das erfinderische Berlin. Berlin hat nämlich schon immer die Welt beglückt, mal mit Erfindungen, die alle, mal mit solchen, die nicht mal die Berliner haben wollten. In einem netten, einschlägig illustrierten Verschenk-, aber Vorherselbstlesebuch sind sie mit ureigenem Charme versammelt: das Badesofa, der Bartschutzlöffel, der Beinkleid-auszieher oder die Wendefahne, aber auch die Hundeleine und das Fahrradventil, das Klosettpapier, das künstliche Bein und die Biowurst, die elektrische Beleuchtung, die Lokomotive, den Bier­zapfhahn, Röntgenröhre, Fernseher u. v. a. nicht zu vergessen.

Franz Hessel selbst ist es nicht, Walter Benjamin ist es gewesen, der dieses unselige Epitheton vom Flaneur für Hessel in die Welt gesetzt hat. Ja, er ist für sein Buch von 1929 spazierengegangen, aber er hat auch Bücher gelesen, ist Bus ge­fahren und hat sich Betriebe zeigen lassen. Nicht immer nur gemächlich, doch stets bedacht und durchaus mit Interesse und Absicht. Nämlich an Berlin Gefallen und seinen „demokratischen Großstadtfrohsinn“ zu finden – oder wenigstens zu beschwören. Das macht den großen Reiz seines berühmtesten Berlin-Buchs bis heute aus. Unverzichtbar ist es ohnehin noch immer für jeden, der nach älteren Schichten im Heutigen spürt. Und für alle, die nicht schwachsinnig Berlin sein, sondern es scharfsichtig beobachten lernen wollen. Nun gibt es mal wieder eine Neuauflage, mit einem frischen Vorwörtlein des erfolgreich indignierten Stéphane Hessel und einem Nachwort des emeritierten Hesselkenners Bernd Witte. Und ein Lesebändchen hat es auch.


Berlin. Intellektuelles Profil einer WeltstadtNorbert Kostede Metropolitan Transfer 2011, 120 S., 7

Reclam Städteführer Architektur und Kunst Reclam 2011, 279 S., 8,80

Das erfinderische BerlinMaria Curter Das neue Berlin 2011, 192 S., 13,40

Spazieren in BerlinFranz Hessel Verlag für Berlin-Brandenburg, 235 S., 19,90

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