Ohne Revolutionen dauern die Dinge länger

Gewerkschaften Die IG Metall ficht mit den Arbeitern in Ostdeutschland eine alte Ungerechtigkeit aus: die Lohnmauer
Ausgabe 17/2021
Schon in den 70er-Jahren streikten und demonstrierten die Metaller für die 35-Stunden-Woche. Sie wurde bis heute nur in Westdeutschland Realität
Schon in den 70er-Jahren streikten und demonstrierten die Metaller für die 35-Stunden-Woche. Sie wurde bis heute nur in Westdeutschland Realität

Foto: Klaus Rose/IMAGO

Beinhart verteidigen Sachsens Metallarbeitgeber eines der letzten Symbole der Spaltung Deutschlands: die 38-Stunden-Woche. Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall steht die Lohnmauer immer noch. Ausgerechnet in der produktivsten und profitabelsten Branche, der Metall- und Elektroindustrie, arbeiten die ostdeutschen Beschäftigten jede Woche unbezahlt drei Stunden länger als ihre Kollegen im Westen. Mit Warnstreiks in den ostdeutschen Autofabriken von Porsche, BMW und Volkswagen macht die IG Metall gerade mobil, um die Sache endlich zu Ende zu bringen.

Die ostdeutschen Automobilfabriken sind die modernsten und effizientesten hierzulande. Die unbezahlte Mehrarbeit der Beschäftigten ist ein Bonus, ein Extraprofit, für den es nicht mal den Schein einer legitimen Begründung gibt. Die Unternehmer genehmigen ihn sich schlicht, weil sie – bislang zumindest – am längeren Hebel sitzen.

Auch scheinbar kleine Dinge brauchen manchmal ihre Zeit. Man übersieht sie schnell. Drei Stunden Mehrarbeit die Woche machen übers Jahr einen Monat aus. Man könnte ja mal ausrechnen, wie viel unbezahlte Arbeit ostdeutsche Beschäftigte seit der Wiedervereinigung für den „Aufbau Ost“ geleistet haben.

Manches kommt im Geschichts- und Politikunterricht an deutschen Schulen nicht vor, obwohl eine historische Einordnung durchaus hilfreich wäre: Denn mittlerweile dauert der Kampf um die 35-Stunden-Woche in Deutschland länger als der um die Einführung des Achtstundentags vor gut einem Jahrhundert. Beendet wurde Letzterer durch ein Machtwort der Novemberrevolutionäre von 1918, die die alte Forderung aus dem Eisenacher SPD-Programm von 1869 verwirklichten.

Ohne Revolutionen dauern die Dinge länger: Die Forderung nach der 35-Stunden-Woche steht seit 1970 auf der Agenda der Gewerkschaften. Kollektive Arbeitszeitverkürzung galt als Antwort auf Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau, aber auch als Strategie zur Humanisierung der Arbeit. Die entscheidenden Schlachten wurden 1978/79 in der Stahlinduistrie und 1984 in der Druck- sowie Metall- und Elektroindustrie geschlagen. Mit mehrwöchigen Streiks setzten die Gewerkschaften den Einstieg in die 35-Stunden-Woche durch. Es dauerte noch mal ein Jahrzehnt, bis sie 1995 in der Metall- und Elektroindustrie Realität wurde – im Westen.

2003 versuchte der IG-Metall-Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen, die Regelung in Ostdeutschland durchzusetzen. Der Kampf endete mit einer Niederlage – und das nicht, weil die Arbeitgeber übermächtig waren. Zwar hatten die Unternehmer – zur Überraschung der IG Metall mit Rückendeckung der rot-grünen Bundesregierung – eine beeindruckende Medienkampagne inszeniert. Unvergesslich bleibt, wie vor laufenden TV-Kameras bei Federal-Mogul in Dresden Streikbrecher mit dem Hubschrauber eingeflogen wurden. Doch die Streikfront in den Betrieben stand. Der Kampf scheiterte an der Sabotage einiger einflussreicher Betriebsratsfürsten westdeutscher Automobilkonzerne, die den IG-Metall-Vorstand zum Abbruch drängten, genau in dem Moment, als der Streik begann, Wirkung zu zeigen, weil er die Nachschublieferungen in den westdeutschen Autofabriken beeinträchtigte.

Für viele Metallerinnen und Metaller in Ost wie West war dieser Verrat eine traumatisierende Erfahrung. Der nun wiederaufgenommene Kampf, die Sache endlich auszufechten, ist eine Chance für die IG Metall, dieses Trauma loszuwerden und reinen Tisch zu machen.

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