Ohne Segen des Parlaments

Im Gespräch André Brie, Afghanistan-Berichterstatter des Europaparlaments, über QRF-Soldaten im Süden, einen möglichen Ausstieg der NATO und einen möglichen Einstieg der Taleban

FREITAG:Wie muss man sich einen typischen Einsatzfall für die Quick Reaction Force in Afghanistan vorstellen?
ANDRE BRIE: Ausgelöst durch Militäroperationen von Taleban, al-Qaida-Gruppen oder anderen aufständischen Formationen, zu denen auch die Anhänger Gulbuddin Hekmatyars zu rechen sind, der sich mit seiner Partei Hezb-i-Ilsami mehr und mehr im Norden regt.

Wer erteilt den Einsatzbefehl?
Zunächst einmal das von Deutschland geführte Regionalkommando in Nordafghanistan.

Und darüber hinaus?
Ein Einsatzverband wie die QRF kann ausdrücklich für Kampfhandlungen angefordert werden, wenn es dazu in anderen Regionalabschnitten von ISAF kommt. Nicht zuletzt im Süden, wo es eine De-facto-Zusammenarbeit von ISAF und der von den USA geführten Operation Enduring Freedom OEF gibt. Das heißt, die Übernahme der QRF-Mission durch die Bundeswehr kommt einer qualitativ neuen Stufe des deutschen Engagements am Hindukusch gleich. Diese Form des Einsatzes bezeugt eine schleichende Ausdehnung des Parts, den die Bundeswehr in Afghanistan übernommen hat.

Habe ich Sie richtig verstanden, es gibt keine klare Abgrenzung zu Enduring Freedom? Folglich operiert die QRF unter Umständen außerhalb des ISAF- und damit des UN-Mandats?
Ich sehe das so, die Bundesregierung wird es formal damit begründen, dass ISAF und OEF nach wie vor getrennt seien - in der Praxis läuft das längst anders.

Hätte es dazu nicht mindestens eine Debatte, wenn nicht gar gesonderte Entscheidung im Bundestag geben müssen?
Eine Debatte sowieso, weil sich immer mehr zeigt, dass die gesamte Afghanistan-Strategie der NATO gescheitert ist. Auch die Tatsache, dass die Norweger, an deren Regierung die Sozialistische Linkspartei teilnimmt, am 1. Juli ihr QRF-Mandat abgeben, ist ein Indiz dafür, dass die Lage sich eindeutig verschlechtert hat, wie das auch den Analysen des Außenministeriums in Oslo zu entnehmen ist. Von daher hätte das Mandat für die Bundeswehr in Afghanistan auf jeden Fall angepasst werden müssen. Und zwar durch das Parlament in Berlin.

Das klang jetzt so, als gäbe es am 1. Juli keinen turnusmäßigen Übergang zwischen der norwegischen und der deutschen QRF-Mission, sondern einen durch die Umstände erzwungenen.
Es handelt sich schon um einen planmäßigen Vorgang, nur hätte es den Norwegern freigestanden, die QRF-Mission fortzuführen, doch wollte das die Sozialistische Linkspartei als Juniorpartei der Regierung in Oslo nicht länger mittragen.

Sie haben gerade erst Afghanistan bereist - wie hoch sind derzeit die Risiken für die QRF, in Kampfhandlungen verwickelt zu werden?
Hoch und das vorrangig aus einem Grund: Eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung sieht in allen Ausländern eine Gefolgschaft der Amerikaner und lehnt sie klar ab.

Sie haben jetzt schon mehrfach von möglichen QRF-Einsätzen im Süden gesprochen. Wird damit nicht stillschweigend vollzogen, was die Bundesregierung nach außen hin nie wollte?
So ist es. Es gibt zu meinem letzten Afghanistan-Bericht an das Europäische Parlament Änderungsanträge der konservativen, liberalen und der sozialdemokratischen Fraktion. Sie alle verlangen ausdrücklich, dass jeder europäische Staat - ohne nationale Vorbehalte - zu Kampfeinsätzen auch in den gefährlichen Zonen des Südens herangezogen werden kann. Das zeigt, wie enorm der Druck ist und dass Mehrheiten im Europäischen Parlament ihm nachgeben.

Kann man bei den Taleban derzeit von einer zentralen Kommandogewalt sprechen?
Die gibt es zweifellos, und die ist effizienter geworden. Gleichzeitig sollte man dabei nicht die militärisch sehr gut organisierte al-Qaida vergessen, die alles andere als identisch mit den Taleban ist.

Und welche Hinweise gibt es auf die politische Strategie der Taleban? Wollen sie zurück zu der Ordnung des drakonischen Gottesstaates, die bis 2001 bestand?
Das ist umstritten. Natürlich gibt es solche Kräfte - zum anderen existieren Taleban-Fraktionen und -Führer, die ihren ideologischen Fundamentalismus über eine Teilhabe an der gegenwärtigen Macht durchsetzen wollen.

Die ließen sich möglicherweise in das heutige politische System Afghanistans einbinden?
Wenn, dann mit einer sehr reaktionären Ideologie, für die es freilich in der Regierung und in großen Teilen des Parlaments durchaus Sympathisanten gibt. Es sind zudem in der Afghanistan-Politik der USA und Großbritanniens Bestrebungen zu erkennen, eine solche Integration zu forcieren.

Der Weg zu einer politischen Lösung?
Wenn damit eine elementare Veränderung der internationalen Strategie verbunden ist, die vom militärischen Engagement zum zivilen Aufbau übergeht, dann ja. Es müsste jedoch eine Einhegung des Fundamentalismus geben, der besonders für die Frauen eine verheerende Lage heraufbeschwört.

Wäre es für moderate Kräfte der Taleban ein Signal, sollte die NATO beginnen, über eine Exit-Strategie nachzudenken und das öffentlich?
Ich hielte dies für das aktuell wirkungsvollste Signal, das gegenüber diesen Fraktionen ausgesandt werden könnte.

Das Gespräch führte Lutz Herden

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