Ohne Stalin

Linksbündig Formiert sich eine neue kommunistische Intelligenz?

Den Kapitalismus zu kritisieren, ist einfach. Besonderer Beliebtheit erfreute sich dieses Gesellschaftssystem selten, allenfalls in prosperierenden Phasen stützte es sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Apologeten wenden diesen Umstand gern ins Positive. Ist nicht das Schöne an ihm, dass die Kritik dazugehört? Die Anklageschriften und Enthüllungen der letzten Jahre, von Naomi Klein und anderen, haben ihn zwar weiter ins Gerede gebracht, aber keine systemischen Beunruhigungen ausgelöst. Unzufriedene gibt es immer, irgendwie ist jeder ein Kritiker, und die populäre Kritik am Kapitalismus, die ihn seit jeher begleitet, stabilisiert das kriselnde Buchgewerbe.

Betrachtet man nun die alljährliche Doppelnummer des Merkur als Indiz für die Zeitstimmung, ist jetzt eine gewisse Irritation unübersehbar. Kapitalismus oder Barbarei? lautet der Titel. In einigen Essays wird dort der Kapitalismus wie jemand verteidigt, der sich aus einer wasserdichten Anklage herausschleimen muss. Viel mehr als Variationen über einen Satz von Karl Marx im Kommunistischen Manifest, demzufolge die Bourgeoisie in der Geschichte eine "höchst revolutionäre Rolle" gespielt habe, kommt argumentativ dabei nicht heraus. Sollte der Merkur aber dieses Mal den Geist der Zeit erwischt haben, bedeutete das, dass Kapitalismus die Selbstverständlichkeit der letzten Jahre zu verlieren beginnt.

Gerade zur rechten Zeit kam der Kongress Indeterminate! Kommunismus am letzten Wochenende in Frankfurt. Mit Kritik kann der Kapitalismus zwar mehr oder weniger gut leben, aber ein Gegenentwurf, eine Fluchtperspektive ist ungleich bedrohlicher. Vor einigen Jahren forderte schon Johannes Agnoli, die Linke müsse den Gedanken an eine Utopie wiederfinden, denn dies sei immer ihre große Stärke gewesen.

Nur wo soll mit der Suche begonnen werden? Ausgerechnet beim Kommunismus, diesem ausrangierten Möbelstück, dessen Vorbesitzer Stalin jeden Versuch der Renovierung bislang wirkungsvoll vereitelt hat? Stalin wurde in Frankfurt nur erwähnt, um die Abwesenheit des Stalinismus auf den Diskussionsforen zu kritisieren. Offensichtlich dominierte das Bedürfnis, sich eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus vorstellen zu dürfen, ohne permanent über den Staatssozialismus reden zu müssen. Slavoj Zizek hatte letztes Jahr mit seinem Buch Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin die Stichworte geliefert und auf dem Kongress nochmals für den "Schritt nach draußen" plädiert. Dies trug ihm zwar den Vorwurf Micha Brumliks ein, er wolle aus der Geschichte aussteigen, aber immerhin nicht die "Salve sarkastischen Gelächters", die er in seinem Buch prophezeit hatte - die blieb Brumlik vorbehalten, als er eine Bernsteinsche Sozialdemokratie in den blauen Frankfurter Himmel imaginierte.

Es war auch deshalb wenig von Stalin die Rede, weil die Redner und Rednerinnen überwiegend aus dem Teil des linken Spektrums stammen, der unter dem Label "radikale Demokratie" firmiert. Chantal Mouffe erneuerte das diskurstheoretische Konzept aus ihrem mit Ernesto Laclau verfaßten Buch Hegemonie und radikale Demokratie; und Axel Honneth sprach darüber, dass die Demokratie und nicht etwa der Kommunismus "unsere regulative Idee" sein soll. Die Bundeskulturstiftung muss sich also nicht sehr darüber ärgern, den Kongress zum größten Teil gesponsert zu haben.

Die Frage, ob Zizeks entschlossener "Schritt nach draußen" oder nicht doch eine allmähliche Ausweitung der Demokratie vorzuziehen seien, führte jedoch weiter. Jacques Rancière wollte diese Gegenüberstellung auflösen, indem er eine kollektive kommunistische Intelligenz ins Spiel brachte, die es ermöglicht, zugleich "Drinnen" und "Draußen" zu sein. "Wenn es ein gutes Programm des Kommunismus gäbe, würde der Kapitalismus es kaufen und integrieren", meinte er und insistierte auf dem Prozesscharakter einer Bewegung.

Seiner Rede zufolge ist es also müßig, Planspiele über eine gute Gesellschaft zu beginnen, und tatsächlich wurde keine gesellschaftliche Alternative detailgetreu an die Wand gemalt (auch wenn Micha Brumlik in seiner Bernstein-Stimmung das gern gehabt hätte). Aber es ging um die Möglichkeiten und Bedingungen, sich eine solche vorstellen zu können, und das ist in einer Zeit, in der das hirnlose Gerede von der Alternativlosigkeit, das jede abgefahrene Sozialkürzung begleitet, die Kanäle verstopft, ein unbestrittenes Verdienst.


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