Oma, ich komme nicht

Verwandtenbesuch Die Großmutter unsere Autorin wird diese Woche 83 Jahre alt. Wer wird mit ihr feiern? Und was ist gefährlicher: Corona oder Einsamkeit?
Ein Geburtstagslied am Telefon muss dieses Jahr reichen
Ein Geburtstagslied am Telefon muss dieses Jahr reichen

Foto: Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Meine Oma Hella wird Ende der Woche 83 Jahre alt.

Für mich ist sie kein Gegestand journalistischer Berichterstattung, sondern: die tollste Oma auf der Welt. Die immer einen Butterkeks und eine lustige Geschichte parat hat. Mit der wir beim Wandern Lieder sangen. Mit der wir im Kino statt Popcorn und Cola selbstgeschmierte Käsebrote aßen. Meine Oma eben!

Seit geraumer Zeit leidet sie jedoch an Demenz, weshalb sie in die Tagespflege geht. Angefangen hat das alles vor Jahren, mit kleinen Vergesslichkeiten, worüber wir uns als Kinder lustig machten. Jetzt weiß sie oft nicht mehr, was ich ihr vor einer halben Stunde erzählt habe.

Sie hat also Geburtstag und eine Frage, die ich mir sonst nie gestellt habe, wird auf einmal zur schwierigen Entscheidung: Kann ich sie besuchen? Soll ich? „Natürlich nicht!“ Das ist die einfache, die rationale Antwort, in Zeiten der Corona-Pandemie, „sie ist über 80 und gehört zur Risikogruppe.“ Emotional ist die Absage aber gar nicht so einfach – und moralisch erst recht nicht. Seit die Demenz überhandgenommen hat, ist das Leben meiner Oma sehr eintönig geworden. Jeden Morgen wird sie von der Tagespflege abgeholt. Dort verbringt sie die Zeit mit drei oder vier anderen Senioren, am späten Abend wird sie wieder nach Hause gefahren. Sie weint oft, fühlt sich einsam. Die Krankheit macht ihr Angst. Meine Eltern besuchen sie mindestens zweimal in der Woche. Wir, ihre Enkelkinder, kommen meist nur alle zwei Monate vorbei, weil wir weiter weg wohnen.

Dass wir alle mit ihren Geschwistern und Cousinen zusammensitzen, passiert eigentlich nur einmal im Jahr – nämlich zu ihrem Geburtstag. Der wird mit Torte im Familienkreis gefeiert, alte Geschichten und allerhand Likör gehören auch dazu. Und dieser Geburtstag soll nun plötzlich ausfallen? Obwohl wir genau wissen: Im nächsten Jahr wird sie sich an noch weniger erinnern, wird die Krankheit sie noch mehr einnehmen.

„Kann man nachholen“ vs. „Es könnte ihr letzter Geburtstag sein“

Die Pfleger*innen der Tagesbetreuung reagieren auf unsere Nachfrage, wie wir den Geburtstag verbringen sollten, zwiespältig. Das Spektrum der Antworten reicht von „Kein Geburtstag – kann man alles nachholen“ bis „Feiern Sie ruhig – es könnte ihr letzter Geburtstag sein“. Na, was denn jetzt?

Meine Oma selbst scheint die Geburtstagsproblematik gelassen zu sehen. Sie hätte ja schon den Krieg überlebt, sagt sie. Und sowieso: Wir sollen uns mal alle nicht so haben. Sie sei rüstig, so eine „Erkältung“ könne ihr nichts haben. Dass mein Vater sie nicht umarmte, wollte sie partout nicht verstehen. Dass wir überlegen, den Geburtstag abzublasen, stimmt sie vor allem eines. Traurig.

Mit meinem Vater treffe ich deshalb nach einem längeren Telefonat auch die Entscheidung: Wir feiern den Geburtstag– in ganz kleiner Runde draußen im Garten– ohne Umarmung – und ohne Händeschütteln. Und ich werde sie besuchen.

Später erzähle ich das meinen Freund*innen. Ich ernte skeptische Blicke. Das Risiko der Ansteckung, für meine Oma, aber auch die anderen in der Tagespflege! Mit dem Fernzug hinfahren? „Den Geburtstag könnt ihr doch nachholen. Schreib ihr eine Karte und ruf sie doch jeden Tag an.“

Nachholen, das klingt so, als ob diese ganze Krise in zwei Woche gegessen wäre. Laut Robert-Koch-Institut könnte die Pandemie jedoch zwei Jahre dauern. Natürlich geht momentan niemand davon aus, dass dieser Ausnahmezustand für mehrere Monate anhält, aber weiß jemand wirklich, wie sich die Dinge entwickeln werden?

Dann erzählen mir Freund*innen, dass sie selbst nicht mehr zu ihren Großeltern fahren. Ich lese Zeitungsberichte darüber, wie gerade junge Menschen derzeit zur rasanten Ausbreitung des Virus beitragen, weil sie sich nicht an die „soziale Distanzierung“ halten. Also gut. „Oma, ich komme nicht zu deinem Geburtstag.“ Ein Geburtstagslied per Telefon werde ich trotzdem singen.

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