Corona-Krise Digitale Plattformen wie Lieferando, Uber und Amazon werden jetzt zu wichtigen Versorgungsinfrastrukturen. Doch die Arbeitsbedingungen dort sind nach wie vor prekär
In Deutschland ist die Nachfrage nach Lieferungen ins eigene Zuhause enorm gestiegen
Foto: imago images / Emmanuele Contini
„Wie macht ihr das mit der kontaktlosen Lieferung, wenn die Suppe in den Rucksack ausgelaufen ist?“ fragt ein Berliner Fahrer des Essenslieferdienstes Lieferando seine Kolleg*innen. „Ich werfe dem Kunden einen Strohhalm zu“, antwortet ein anderer. Humor hilft, auch in Zeiten von Covid 19.
Obwohl Lieferando seit letzter Woche mit „kontaktloser Lieferung“ wirbt, sind die beiden Fahrer und hunderte ihrer Kolleg*innen erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Und gleichzeitig in einer ökonomisch sehr schwierigen Situation. Sie, wie alle Arbeiter*innen von Lieferdiensten, schwanken jetzt zwischen der Angst, sich durch die zahlreichen Kontakte mit Kundschaft und in Restaurants selbst anzustecken und der Befürchtung, dass ihre Tätigkeit ein
igkeit eingestellt wird und sie von einem Tag auf den anderen ohne Verdienste dastehen.Dabei könnte es sein, dass die Pandemie zur Stunde der Plattformen wird: In Großbritannien befinden sich die Unternehmen Uber, Deliveroo und Just Eat (die Plattform gehört wie Lieferando zur Takeaway-Firmengruppe) in Gesprächen mit der Regierung, um gegebenenfalls die Versorgung älterer Menschen zu sichern. Deliveroo hat seit Beginn der Corona-Krise seine Kundschaft in Großbritannien fast verdoppelt und bietet in Zusammenarbeit mit einer Supermarktkette nun auch Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs zur Lieferung an die Haustür an. In China führte der Ausbruch der Corona-Epidemie zu einem Boom von Plattformen, die Essen und Lebensmittel an die Haustüren der isolierten Kundschaft liefern. In den USA versucht Amazon gerade 100.000 neue Liefer- und Lagerarbeiter*innen einzustellen, um die explodierende Nachfrage zu bewältigen. In Paris und Mailand sind die Fahrer*innen von Deliveroo und anderen Lieferdiensten oft die einzigen Menschen, die noch auf den leer gefegten Straßen zu sehen sind. Auch in Deutschland ist die Nachfrage nach Lieferungen ins eigene Zuhause enorm gestiegen.Digitale Plattformen, und besonders die Logistik und Lieferung auf der „letzten Meile“ hatten als Teil der „on-demand-Ökonomie“ schon vor Corona ein exponentielles Wachstum erfahren, getragen von weltweit Millionen Menschen, die meist prekär selbständig, im Minijob oder befristet angestellt sind. Jetzt zeigt sich: Sie sind systemrelevant, notwendig für Mobilität, Sauberkeit und Versorgung.Durch ihre Flexibilität können digitale Plattformen ihre Arbeiterschaft leicht skalieren und bei großer Nachfrage tausende von Plattformarbeiter*innen per App durch die Stadt dirigieren. Im Falle von Schließungen und Ausgangssperren kosten die Arbeiter*innen den Plattformen, die auf Solo-Selbständige setzen, keinen Cent. Dies deshalb, weil das Geschäftsmodell der Plattformen systematisch die Verantwortung umgeht, die Unternehmen in der Regel für festangestellte Arbeiter*innen tragen müssen – auch im Falle von Krisen wie der gegenwärtigen Pandemie.„Ich arbeite weiter, Fieber oder nicht“Ähnlich wie die Arbeiter*innen in vielen Fabriken in Italien und Spanien, wo es aufgrund mangelnder Sicherheits- und Hygienevorkehrungen zu wilden Streiks gekommen ist, machen sich Plattformarbeiter*innen Sorgen um ihre Gesundheit. Der Unterschied: Sie können sich nicht auf Lohnfortzahlungen im Falle von Betriebsschließungen, Ausgangssperren oder Krankheit verlassen. Deswegen arbeiten die meisten weiter.„Ich kann mich nicht in freiwillige Quarantäne begeben, weil nicht Arbeiten keine Option ist“, schreibt die US-Amerikanerin Mariah Mitchell, die in New York für mehrere Plattformen wie Lyft und Uber Eats arbeitet und sich gewerkschaftlich engagiert. In einem eindringlichen Brief, den die New York Times vor einigen Tagen veröffentlich hat, erklärt sie: „Wenn ich nicht genug Geld verdiene, kann ich in den nächsten sechs Wochen meine Kinder nicht ernähren. Ich arbeite weiter, Fieber oder nicht. Und die meisten anderen Gig Worker machen es genauso, weil niemand von uns genug Geld verdient, um für einen Notfall wie diesen zu sparen.“Viele andere Plattformarbeiter*innen werden allerdings bald ohne Arbeit dastehen. Schon vor den Ausgangsbeschränkungen berichten Fahrdienste wie Uber oder Lyft von einem dramatischen Rückgang an Passagieren. In Berlin erzählt ein Fahrer: „Ich fahre gerade seit Stunden ohne Auftrag durch die Stadt, das lohnt sich nicht.“ Da er nur nach Fahrten bezahlt wird, ist der Tag vergeudet. Während die Plattformen ihre Fahrer*innen im Falle eines Shutdowns nicht weiter bezahlen müssen, sind diese dringend auf wöchentliche Einnahmen angewiesen. Einige müssen dazu noch Schulden abbezahlen, die sie für den Kauf oder das Leasing ihres Autos aufgenommen haben.Ein Ausfallhonorar im Krankheitsfall? Wie großzügigUnd wie reagieren die Unternehmen auf die Situation? Die deutsche Plattform Helpling, die in zehn Ländern Putzkräfte vermittelt, möchte laut einer internen E-Mail auf Strafgebühren verzichten, wenn Arbeiter*innen Aufträge aus Sorge um ihre Gesundheit absagen. In diesem Fall oder wenn die Kundschaft ausbleibt, gibt es allerdings keinerlei Ausfallgeld. Die Putzkräfte von Helpling müssen dabei ebenfalls zwischen dem Schutz der eigenen Gesundheit und dem drohenden Einkommensverlust wählen. Bei Helpling in Deutschland besteht die Arbeiterschaft – so wie bei vielen anderen Plattformen auch – in der Mehrheit aus Migrant*innen, die kaum Alternativen auf dem Arbeitsmarkt oder Zugang zu sozialer Absicherung haben.Bei Lieferando wurden im Zuge der Corona-Krise neue Hygienerichtlinien verkündet. So wurde etwa die kontaktlose Lieferung eingeführt und Schutzausrüstung versprochen, die jedoch zur Verärgerung vieler Fahrer*innen nicht ausgeliefert wurde. In Berlin müssen die Fahrer*innen jetzt auf eigene Fahrräder oder Bike-Sharing-Dienste ausweichen, da der “Hub”, die Lieferando Zentrale, wo sonst die firmeneigenen E-Bikes abgeholt werden, geschlossen ist. Im Gegensatz zu anderen Plattformen sind die Fahrer*innen bei Lieferando meist mit Minijobs oder anderen Teilzeitverträgen angestellt. Wenn sie Angst um ihre Gesundheit haben, stehen sie vor der Wahl, Urlaub zu nehmen oder Fehlzeiten anzuhäufen.In den USA und verschiedenen europäischen Ländern haben Plattformen wie Deliveroo, Uber und Lyft Ausfallhonorare versprochen, wenn sich Fahrer*innen mit dem Corona-Virus anstecken. Dies stellt einen neuen und ungewöhnlichen Schritt dar und ist in gewisser Weise auch ein Eingeständnis der Plattformen, die sonst bei jeder Gelegenheit betonen, nicht in der Verantwortung für die formal selbstständigen Arbeiter*innen zu stehen. Plattform-Unternehmen sind jedoch weiterhin nicht verpflichtet, ihre Arbeiter*innen abzusichern und präsentieren ihre Notfallfonds jetzt mit dem Gestus der Großzügigkeit im Angesicht der Krise. Darüber hinaus greifen die Maßnahmen meist erst im Fall einer Diagnose. Selbstquarantäne als Vorsichtsmaßnahme ist so nicht möglich.Krisengewinnler Crowdwork?Auch Homeoffice ist in der Plattformökonomie schon längst Alltag: Das Netz wimmelt nur so von sogenannten Crowdworker*innen. Millionen von digitalen Heimarbeiter*innen loggen sich tagtäglich auf Plattformen wie Appen, Amazon Mechanical Turk, Upwork oder Clickworker ein und kategorisieren Bilder, sortieren Datensätze, testen Software oder entwerfen Logos. Im Unterschied zu Plattformen wie Uber und Lieferando, die an einen bestimmten, meist urbanen Raum gebunden sind, kann Crowd-Arbeit von überall erledigt werden, wo es Zugang zum Internet gibt. In den meisten Fällen aber findet sie im privaten Zuhause, im Wohnzimmer oder am Küchentisch statt. So findet sich auf Crowdwork-Plattformen eine global verteilte und sehr heterogene Arbeiterschaft – von der deutschen Seniorin, die sich etwas zur niedrigen Rente dazu verdienen möchte über die rumänische Buchhalterin, die auf der Plattform weitaus mehr verdient als auf dem lokalen Arbeitsmarkt bis hin zum Vollzeit arbeitenden indischen Softwareentwickler.In der gegenwärtigen Krise wird diese Form der digitalen Heimarbeit vermutlich eine rasante Zunahme verzeichnen. Crowdwork-Plattformen wie Upwork bringen sich hierfür bereits in Stellung. Mit Twitter-Botschaften wie „#RemoteWork is the new normal“ werben sie beispielsweise für ihre unterschiedlichen „Virtual Workforce Solutions“, ein explizites Angebot an Unternehmen, die in der gegenwärtigen Situation sehr schnell ganze Belegschaften in Heimarbeit koordinieren müssen.Kann Crowdwork auch den Anstieg der Arbeitslosigkeit abfedern? In einem Online-Forum für digitale Arbeiter*innen schreibt ein neuer Nutzer aus New York: „Ich bin Friseur in einem High-End-Friseurladen. Wir werden in den nächsten Tagen aufgrund von COVID19 gezwungen sein, zu schließen. Ich brauche irgendeine Art von Einkommen. Kennt jemand eine Arbeit online von zu Hause? Ich bin so nervös. Ich weiß nicht, was ich tun soll."Wie er stoßen neue Arbeitssuchende im digitalen Raum zu den bereits circa 5-7 Millionen Crowdworkern, die in ständiger globaler Konkurrenz zueinander immer wieder nach neuen Aufträgen suchen. Viele sind schlecht bezahlte stumpfe Tätigkeiten, während die schwankende Verfügbarkeit von lukrativen Jobs eines der zentralen Probleme ist, das Crowdworker immer wieder bemängeln.Der Aufstieg von digitalen Plattformen und ihrem Modell unsicherer Arbeit resultiert wesentlich aus der Finanzkrise- und Wirtschaftskrise von 2008. Jetzt, im Zuge der Corona-Krise, zeigt sich die gesellschaftliche Relevanz dieser Tätigkeiten ebenso wie die Prekarität ihrer Arbeitsmodelle in grellem Licht: Plattformarbeit beruht auf der systematischen Verschiebung der geschäftlichen und sozialen Risiken weg von den Unternehmen und hin zu den Arbeiter*innen. Hilfspakete von Unternehmen und Staat sind jetzt wichtig, um diesen Arbeiter*innen in der Krise zu helfen. Um die strukturellen Probleme der Plattform-Ökonomie anzugehen, ist jedoch politische Veränderung unabdingbar. Dafür bietet die aktuelle Krise auch ein Möglichkeitsfenster, um die Spielregeln dieser Arbeitsfelder radikal neu auszuhandeln. Das wäre dringlicher denn je.
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