Onkel und Tanten

Komödie Eva Menasses Roman "Vienna"führt in das Labyrinth der Familie

Dieser Roman hat einen Anfang und ein Ende. Sogar noch einen Nachruf. Ausdrücklich. Und er beginnt mit einer Sturzgeburt und endet mit einer solchen. Dazwischen liegen über 400 Seiten, ein ganzes Jahrhundert und die Karrieren und Affairen einer "lustigen Familie".

Die Wiener Journalistin Eva Menasse hat dem dieser Tage grassierenden Faible für den Familienroman die Krone aufgesetzt - und das in zweierlei Hinsicht. Vienna, so der Titel ihres Romandebüts, treibt das Spiel der Ahnen- und Verwandtenforschung auf die Spitze, verzeichnet - so scheint es zumindest - nahezu jede Anekdote und jedes Erlebnis, das einem der Familienmitglieder der Menasses seit Urgroßvaters Zeiten zugestoßen ist. Hinzu kommt, dass es der Autorin gelingt, dem abgenutzten Begriff vom "prallen Leben" neuen Esprit zu verleihen, denn selten wurde mit derart viel Witz, Charme und Boshaftigkeit über den eigenen Clan geschrieben. Wenn man vergleicht, mit welchen Skrupeln zum Beispiel Gila Lustiger über ihren Vater, den berühmten Historiker Arno Lustiger, und ihre Familie in ihrem jüngst erschienenen Roman So sind wir (2005) offenbar zu kämpfen hatte, scheint Eva Menasse von all dem beim Schreiben völlig frei und unbelastet gewesen zu sein.

Die Handlung des Romans wiederzugeben, ja nur anzudeuten, scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Zu verzweigt und verzwickt laufen hier die Lebenswege ineinander, häufen sich Erlebnisse, wechseln Räume und Figuren. So wie alle Männer der Familie angeblich den gleichen trippelnden Gang haben, mit eiligen, kleinen Schritten, so dicht folgen in dieser letztlich einen großen Geschichte alle Ereignisse aufeinander, springen auch mal munter hin und her, so dass der Leser am Rande der Erschöpfung um eine Gedankenpause bittet. Denn diese fehlen in diesem atemlosen Text, hier wird erzählt, als wäre der Teufel hinter der armen Seele her. Reflektiert, betrachtet oder gefragt wird kaum, dazu bleibt in dieser Hektik gar keine Zeit. All dies, was man vielleicht vermissen möchte, steht eher zwischen den Zeilen, rekonstruiert ein Klima zwischen den Jahrzehnten um den Zweiten Weltkrieg herum, vermittelt Atmosphäre und Einblicke in das Leben einer jüdischen Familie in Wien: "A Jud geheert ins Kaffeehaus", pflegte schon mein Großvater zu sagen, wenn ihm zu Ohren kam, dass andere Leute Spaziergänge, gar Wanderungen unternahmen, "bin i a Reh?"

Menasse erzählt mit subtilem Wiener Schmäh von Tanten und Onkeln, die als Lebensjongleure und Spieler über die Runden kamen, von den Seitensprüngen der feschen Jungs der Familie, vom Apfelstrudel vom "Demel", den Schrullen der Großeltern, Hofrat Dr. Schneuzl und der Burmesin Mimi, die der Großvater vor seinem Tod noch adoptieren wollte. Man streitet, wer der bessere Jude ist, mokiert sich über Schtetl-Juden, pflegt Mascherlturniere und Herrenabende, ist dünkelhaft, sonderbar und rassistisch. Frauen sind "hübsche Knödel auf Stelzen" und Männer meist charmant und selten zuverlässig.

Doch hinter diesem Kuriositätenkabinett, das auch bekannte Klischees aufpoliert, laufen die zeitgeschichtlichen Linien und blitzen die tragischen Erfahrungen, die die österreichischen Juden machen mussten, in konziser Form auf: Kindertransport nach England, der Anschluss Österreichs, Antisemitismus, gelber Stern und Holocaust, die Einnahme Wiens durch die Rote Armee und das Leben der letzten Juden Wiens in den Gassen entlang des Donaukanals, Waldheim oder die "Popelnik-Bombe", die der Halbbruder der Autorin, der Schriftsteller Robert Menasse, zum Platzen brachte und damit einen österreichischen Volkshelden als Nazi enttarnte.

Eva Menasses Roman ist Panoptikum, Privatissimum und zeitgeschichtliches Dokument zugleich. Zwischen "First Vienna Footballclub" und Kaffeehaus, Theresienstadt und Internierungslager verankert er das Leben einer jüdischen Familie, zuweilen zwar an der Grenze zur "Pointenschleuder" in der Tradition von Gregor von Rezzori, doch im Ganzen zeigt er sich als menschliche Komödie, in der das Unerzählbare erzählt und das Tragische verlacht wird.

Eva Menasse: Vienna. Roman. Kiepenheuer, Köln 2005. 432 S., 19,90 EUR


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden