In einem Gedicht von Edgar Allan Poe zieht ein hehrer Ritter durch die Lande, getrieben von der Verheißung einer sagenhaften Goldstadt in den Tiefen Nordamerikas. Mühsam wandert er durch Tageslicht und Mondenschein, in Gedanken nur die unermesslichen Reichtümer, die sein Ziel verheißt. Die Pilgerreise führt ihn bis ans Ende seiner Kräfte; dem Tode nahe, erblickt er schließlich eine Schattengestalt und fleht sie an, ihm den Weg zu weisen. „'Über des Mondes / Berge musst du, / Durchs Tal der Finsternis wohl, / Reit‘ mutig fort', / Des Schattens Wort – / 'Dann findest du El Dorado.'“
Heute fährt man mit dem Bummelzug über Zehdenick und Hammelspring (Bedarfshalt) bis zum Bahnhof Templin in Brandenburg, dem verschlafenen H
hlafenen Heimatörtchen Angela Merkels. Von dort kutschiert einen an diesem sonnigen Vormittag ein Sammelbus zusammen mit zwei Dutzend Rentnern bis vor die Pforten El Dorados, eines Themenparks, der einer alten Westernstadt nachempfunden ist und im Internet mit dem Versprechen „hübsche Ladys“, „harte Kerle“, „wilde Schießereien“ aufwartet.Auf dem Campingplatz vor dem Park wehen die Stars and Stripes, am Eingang wirbt McDonald’s mit „Kau, Boy“. Eintritt durchs Drehkreuz und man steht auf der staubigen „Main Street“, flankiert von einer Schießbude namens „Guns & Glory“ und einer „Bank“, in der man Euro gegen hauseigene „Dollar“ tauschen soll, Wechselkurs 1 zu 0,4.An diesem Tag ist „Indianertreffen“. Einmal im Jahr kommen Vertreter nordamerikanischer Ureinwohnerstämme aus den Vereinigten Staaten und Kanada nach Templin. Das Beiprogramm ist uckermärkischer Provinz-Wild-West-Kitsch, von Axtwerfen bis Goldwäsche alles dabei. Auf einem Plakat fahndet Sheriff Pat Garret nach Billy the Kid (dead or alive), auf dem steingefliesten Boden einer mexikanischen Hochzeitskapelle liegen rosa Blütenblätter. Im Souvenirgeschäft kann man neben den obligatorischen Lederstiefeln auch Südstaatenflaggen erstehen, im Spielzeugladen Actionfiguren von sich bekriegenden Cowboys und Indianern.Hölzerne FassadenManches, wie die auch draußen vor der „Ranch“ gehisste Flagge der südlichen Konföderation, die für viele noch immer ein Symbol der Sklaverei darstellt, wirkt trampelig – die hölzernen Fassaden der Frontiergebäude und die dazugehörigen Balkonbalustraden sind hingegen mit viel Hingabe hergerichtet. Es macht gelegentlich sogar Spaß, zwischen Plandach-Kutsche und „Post Office“ herumzulaufen, in Westernoutfits gekleidete Damen und Herren schlendern einem entgegen: Wollkleider aus der Siedlerzeit, lange schwarze Mäntel, braune Lederwesten. Ein bisschen etwas von Playmobil haben sie, diese thematischen Versatzstücke als kindliche Simulakren.Dann beginnt die Native-American-Show. Die Main Street wird geräumt, 300 Gäste drängen sich links und rechts auf den Veranden, jeder Fünfte trägt Cowboyhut und Holster. Zunächst indianische Musik vom Band, dann singen und trommeln vier von Kopf bis Fuß in traditionelle Tracht gekleidete Natives. Matthew Isaac, einer der Sänger, ist schwer behangen, sein Gewand besteht aus bunten Stoffen, gefranst, gefiedert. Um die Stirn trägt er ein Band, von dem Stachelschweinhaar und eine Adlerfeder emporragen. Zum Rhythmus des Quartettgesangs führt ein Navajo einen Tanz mit zehn Reifen vor, lässt sie über den Boden rollen, wirft sie hoch, verwebt sie, hält sie mit Händen und Zähnen fest. Begeisterter Applaus. „Kommt her, die Indianer beißen nicht“, ermutigt der Moderator die Gäste, „die knabbern nur ein bisschen.“ Wiedersehen mit einer Rentnerin aus dem Bus. Sie scheint glücklich. Ihr Mann hat ein Foto von ihr und dem Reifentänzer gemacht. Ob sie mit ihm geredet habe? „Ne, nur anjekuckt.“ Ein anderer Besucher prüft die Bilder auf seinem Tablet. Alle verwackelt. „Ick war so uffjeregt“, sagt er. „Dit sind zwar ooch nur Menschen, aber man bewundert die dann ja doch irgendwie.“Zwanzig Minuten später hat Matthew Isaac seinen Stachelschwein-Kopfschmuck gegen ein Baseballcap der Detroit Tigers eingetauscht und sitzt auf einer Bierbank. Der 34-Jährige stammt aus einem Anishinaabe-Reservat im kanadischen Ontario und ist gerade für zwei Wochen hier, um bei den Tanz- und Gesangseinlagen aufzutreten. Eine grandiose Erfahrung sei das, „aber ein paar Sachen gehen mir unter die Haut, zum Beispiel wenn Erwachsene dieses Heulen von sich geben, das sie für typisch indianisch halten.“ Zur Erklärung klopft er sich mit der flachen Hand auf den Mund. „Das machen wir einfach nicht.“Er erzählt auch von den Traumata seiner Großelterngeneration. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wurden in Kanada Internate geführt, die Kinder „zivilisieren“ und der indigenen Kultur fernhalten sollten. „Mein Großvater wurde geschlagen“, sagt Isaac, „weil er Ojibwe statt Englisch sprach. Meine Urgroßmutter fing erst auf dem Sterbebett wieder an, ihre Muttersprache zu sprechen.“Sie wirkt chaotisch, diese Neo-Wild-West-Kulisse, in der deutsche Kinder mit Spielzeugrevolvern Jagd auf das Böse machen. Aber was ist das hier überhaupt, das „Böse“? Ein paar Mal zielen Kinder auf die indianischen Gäste, inszenieren unbewusst die über Jahrzehnte von Hollywood geprobte Mythisierung von Weiß gegen Wild. In der nachmittags im Rahmen der Slapstick-Stuntshow erzählten Geschichte ist zwar ein Native der Held. Vorher aber fällt der unsägliche Satz „Schieß‘ die verdammte Rothaut ab!“. Später, bei der „Buffalo Bill Wild West Show“, lässt der Moderator es sich nicht nehmen, die Zuschauer zu fragen: „Angreifende wilde Indianer, welches Geräusch machen die?“ Das Publikum führt treudoof die Hände zum Mund. Geheule ertönt hundertfach aus Brandenburger Kehlen.Dabei ist das in Deutschland übliche popkulturelle Narrativ nicht unbedingt dämonisierend. Während Hollywood sich lange damit begnügte, Native Americans als brutale, kopfhautraubende Antagonisten darzustellen, gab es hierzulande eine Tradition, die sie als die Guten verstand. Karl Mays Winnetou verkörpert Edelmut und Gerechtigkeit. Und in der DDR avancierte Gojko Mitić durch seine Rollen in antikolonialistischen (wenngleich exotisierenden) Indianerfilmen zum DEFA-Superstar. Auch im hiesigen Souvenirshop ziert sein Konterfei ein T-Shirt.Nach der Stuntshow eilt Kevin Dust auf den Reporter zu, ein Absaalooké aus dem US-Bundesstaat Montana. Er will sich unterhalten, ist voller Energie und beginnt schon auf dem Weg zum Interview, in hohem Tempo zu erzählen – von der Falschheit des amerikanischen Entdeckungsmythos, von der Vernachlässigung der Belange der Native Americans unter Trump, von seiner Arbeit im Disneyland Paris, die ihm seit 22 Jahren erlaube, eine Art Kulturbotschafter zu sein. „Native Americans sind schwer hier zu behalten“, erklärt der 55-Jährige und meint mit „hier“ Europa. „Manche von uns werden gefeuert wegen Alkohol.“ Er selbst sei jetzt schon ewig hier und „akzeptiere die Sitten dieser weißen Welt.“Als im Ausland lebender Native spricht er bei seinen Ärgernissen aus Erfahrung: „Die Leute in Deutschland oder Frankreich sind meistens respektvoll, wenn sie Indianer spielen. Aber es bricht mir das Herz, wenn sie in Klischees denken. Was sind die Bilder, die man vor sich hat, wenn man an Native Americans denkt? Ein Totempfahl! Ein Kanu! Die Pfähle haben die Stämme von den Küstengebieten aufgestellt, um landenden Siedlern zu signalisieren, dass das Land schon besetzt war. Ich bin von den Great Plains, da ist kein Meer oder sonstiges Wasser. Was soll ich also damit – oder mit einem Kanu?“Dit is schon jutAnders als in Amerika, erklärt er, würden Natives hier jedoch als Helden wahrgenommen. „Ich habe von Winnetou gehört, der nie in Amerika war, in Deutschland aber als Indianer gefeiert wird. Schade, dass er nie rüber gegangen ist, um alles mal aus der Nähe zu studieren.“ Offenbar hält er Karl Mays berühmteste Figur für real. „Aber wenn er in unserem Namen Wahrheiten ausspricht, dann müssen wir den Kerl bewundern.“Vor der Heimreise noch eine letzte Nachfrage bei einem älteren Herren. Wie ihm das gefallen habe? „Naja, Amerikafan bin ick nich. Aber die Ureinwohner, dit is schon jut.“
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