Deutschland solle seine Zurückhaltung aufgeben, so sehen es die Jüngeren
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Der rote Umschlag klemmt zwischen zwei Büchern, Wolfgang Dominik zieht ihn aus seinem Regal. Darin flattert die Ehrenurkunde für seine 25-jährige Mitgliedschaft in der SPD. Als „Parteivorsitzender“ hat Oskar Lafontaine das Dokument unterschrieben, als Bezirksvorsitzender Franz Müntefering. Das war 1995. Lange her. Vier Jahre später trat Dominik aus der Partei aus. „Wegen des NATO-Überfalls auf Jugoslawien“, sagt er. 1999 hatte die rot-grüne Bundesregierung deutsche Soldaten in den Kosovo geschickt, ohne Mandat der UNO, zehn Tage später richtete sich der Ostermarsch in Bochum dagegen. „Ich wurde ausgebuht, als die hörten, dass ich in der SPD bin“, sagt Dominik heute. Bei der Abschlusskundgebung im alten Bahnhof
hof Langendreer, dem Kulturzentrum der Stadt, saßen auch Sozis auf dem Podium. Der 77-Jährige erzählt, wie er sich mittendrin von seinem Platz erhoben und ein selbstgebasteltes Schild in die Luft gehalten habe: „Heute trete ich aus der SPD aus!“ Es gab viel Beifall.20 Jahre später kämpft Dominik wieder gegen das Vorhaben einer rot-grünen Regierung – der in Bochum. Hier im Stadtteil Laer, nur 300 Meter Luftlinie von seiner Wohnung entfernt, könnte ein Standort der NATO errichtet werden. „Ich will keinen Krieg in meinem Vorgarten!“, platzt es aus Wolfgang Dominik heraus.Mitte September hatte ein Artikel in der WAZ die Pläne der Stadt öffentlich gemacht, die „NATO Communications and Information Agency“ (NCIA) in Bochum anzusiedeln. Die ist bei dem Militärbündnis für Cyber-Security zuständig. Viele glauben, der Autor des WAZ-Textes habe einen Informanten bei der städtischen Wirtschaftsförderung gehabt, die das Projekt mit Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (SPD) vorantreibt. Seit dem Artikel wiegelt der OB sämtliche Anfragen mit dem Hinweis ab, Bochum sei nicht „prioritärer Standort für die Ansiedlung“. Sein Koalitionspartner ist euphorischer: Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stadtrat, der 29-jährige Sebastian Pewny, schwärmt vom „grünen Bekenntnis“ zur NATO und dass seine Partei die Ansiedlung der NCIA „grundsätzlich“ befürworte.Ganz oben auf der FeindeslisteZwar hat diese noch nicht entschieden, ob sie überhaupt nach Deutschland umzieht: Ihr Hauptsitz ist in Brüssel. Und selbst wenn, das Bundesverteidigungsministerium würde wohl andere Städte als Sitz der Agentur bevorzugen. Neben Bonn ist Darmstadt in der engeren Auswahl. Aber wieso kamen dann am 5. November knapp 200 Teilnehmer zu der Kundgebung gegen eine „Cyberkriegszentrale in Bochum“?Zwei „Standortvorteile“ machen die Stadt besonders attraktiv für die NCIA: Das Horst-Görtz-Institut, das vor 20 Jahren an der hiesigen Ruhr-Universität gegründet wurde, versammelt viel Expertenwissen im Bereich IT-Sicherheit. Und dann ist da noch G Data, einer der größten deutschen Hersteller von Cyber-Security-Software, ebenfalls mit Sitz in Bochum. Gut möglich, dass es die NCIA am Ende in diese Hightech-Metropole zieht.Wolfgang Dominik verlässt sein Arbeitszimmer, das vollgestopft ist mit Friedensliteratur. Auch ein Buch von Udo Ulfkotte steht da im Regal, uff, aber darin habe ihn nur eine einzige Passage interessiert: dass Journalisten „durch die Bank“ in transatlantischen Gesellschaften aktiv seien. Kein Wunder, wenn deutsche Medien „Kriege verherrlichen“?Er geht rüber in sein Wohnzimmer, erzählt von einem Leserbrief, den er in der WAZ veröffentlicht hat. Darin bezeichnete er die Ansiedlung der NATO-Agentur als „Bewerbung“ der Stadt darum, „auf der Prioritätenliste des Feindes ganz nach oben zu rutschen“. Wenn die NCIA hierherkäme, sei sogar „die Vernichtung von Laer“ denkbar. Bitte was? Dominik meint das ernst. In militärischen Auseinandersetzungen werde die Hightech-Infrastruktur des Gegners immer zuerst zerstört. „Das hat die NATO im Jugoslawienkrieg auch so gemacht.“ Und Hightech, das wäre dann ja ganz um die Ecke, nämlich auf dem ehemaligen Opel-Gelände, wo die Bochumer Wirtschaftsförderung die NCIA gerne hinverfrachten würde.Ebendort betritt Horst Hohmeier, 72, den Parkplatz an der Alten Wittener Straße. Früher war das hier alles Nutzungsfläche von Opel, heute steht sie leer, und man hört nur den Verkehr über die Autobahn rauschen. Auf der runtergekommenen Schallschutzmauer prangt ein verblasstes Graffito: „Choose Love“, darunter ein Dutzend Nationalflaggen aus dem Nahen Osten. Hohmeier raucht eine Zigarette, abends übernimmt er die Schicht in einer nahe gelegenen Kneipe, die Worte kommen nur langsam aus seinem Mund. Als Ratsmitglied der Linken kämpft er seit der Veröffentlichung des WAZ-Artikels gegen die Ansiedlung der NCIA.Bis 2017 saß er sogar selbst im Aufsichtsrat der Wirtschaftsförderung. Und die einzige „Genossin“ von ihm, die da heute noch drinsitzt, sei ausgerechnet an dem Tag krank gewesen, an dem das Gremium über die NATO-Pläne sprach. Aber die hätte ja sowieso nichts an ihn „durchstechen“ dürfen, sagt er und muss dann selbst ein bisschen lachen. Gerade erst hat die Linkspartei eine Anfrage an die Stadt gestellt: wie es sein könne, dass sie dieses Grundstück an die NCIA vermarkten will, wo doch laut Bebauungsplan eine „Renaturierung“ der Fläche vorgesehen ist? Noch hat die Stadt darauf nicht geantwortet.Egal, mit wem man sich hier trifft, die harten Gegner des „NATO-Standorts Bochum“ sind immer die Alten, meist über 70, so wie Hohmeier und Dominik. Ist Friedenspolitik nichts für „Millennials“ und „Generation Z“? Haben die alle die Pille vom „Ende der Geschichte“ geschluckt und können sich gar nicht mehr vorstellen, dass es mal kracht? Laut einer Studie des Global Public Policy Institute sprechen sich 18- bis 29-Jährige in Deutschland öfter als Ältere für eine Politik aus, die außenpolitisch „mehr Verantwortung übernimmt“. Knapp 60 Prozent dieser Kohorte sind dafür, dass sich Deutschland „stärker als bisher“ an der Lösung internationaler Konflikte beteiligt. Die Autoren der Studie kommen deshalb zu dem Ergebnis, dass der „Konsens der Zurückhaltung“ bei den Jüngeren bröckelt.Wolfgang Dominik sagt, das mit dem Frieden sei eben „eine Tradition der 68er“. Dann erzählt er, woran das liegen könnte. Als Kind habe er vor dem Radio seiner Oma, „noch so ’n Volksempfänger“, gesessen und Berichte über „die letzte Schlacht von Dien Bien Phu“ gehört. Das ist die vietnamesische Stadt, in der die Unabhängigkeitsbewegung Viet Minh 1954 den entscheidenden Sieg über die französischen Kolonialisten errang.Raketen sind Magneten„Ich bin aufgewachsen mit dem Vietnamkrieg“, sagt er, „ich habe brennende Kinder im Fernsehen gesehen, die vor amerikanischen Napalmbomben wegliefen.“ Er geht rüber zu seinem Schreibtisch, auf dem ein Bild liegt, das in der Vorgängerzeitung des Freitag erschienen sei. Es zeigt einen US-Soldaten, der ein totes Baby am Bein gegriffen hat und über ein Feld trägt. „Wie man heute weiß, wurden die alle auf einen Haufen geworfen“, sagt Dominik. Das hätten die Amis dann „body count“ genannt. Dann noch ein anderes Foto, darauf ist er selbst zu sehen, wie er neben dem Krankenbett eines vietnamesischen Jungen mit schwersten Hautverbrennungen sitzt. Der sei 1969 mit dem Rettungsschiff „Helgoland“ nach Deutschland gekommen, dann ging es weiter nach Bochum und direkt ins Krankenhaus „Bergmannsheil“. Dominik, der bei einer studentischen Unterstützungsgruppe für Vietnam mitmachte, kam ihn dort besuchen.Wie er über diesen Jungen redet, lässt regelrecht spüren, welch andere Bedeutung Krieg und Gewalt für seine Generation haben als für später Geborene hierzulande. Dabei sei gerade heute die außenpolitische Lage „so brandheiß wie zur Kubakrise“, sagt Wolfgang Dominik. Immerhin habe sich die NATO mit Ausnahme der Ukraine „ganz Osteuropa“ unter den Nagel gerissen.Plötzlich springt er aus seinem Sessel auf. Nur noch 15 Minuten, bis die Sitzung des Bochumer „Friedensplenums“ beginnt. Die Gruppe hatte Anfang November jene Kundgebung gegen die NCIA organisiert. Kurze Anfahrt, dann rein ins „Haus der Begegnung“. Dort sitzen neun meist grauhaarige Männer und Frauen an einem langen Tisch, nebenan wird Doppelkopf gespielt. Auch zwei Jüngere nehmen am Plenum teil. Der eine tippt das Protokoll in seinen Laptop. Der andere lauscht den Alten, wie sie über „Staatstrojaner“ und die Gefahren eines „Cyberwar“ reden. Da sagt einer der Senioren: „Wenn ich als Außerirdischer auf die Welt käme, dann würde ich denken: Die NATO muss mal abrüsten!“ Schließlich würden drei Viertel aller Rüstungsausgaben auf dieses „aggressive Militärbündnis“ zurückgehen.Dass durch die NCIA auch 2.000 IT-Jobs nach Bochum kämen, lassen sie hier nicht gelten. „Die gehen ja nicht an die arbeitslosen Opelaner“, meint Dominik, „die Kumpel haben da gar nichts von.“ Wichtiger sei, dass die Region dadurch zur Zielscheibe werde: „Wenn ich Russland wäre, würde ich auch eine Bombe auf Bochum werfen!“, sagt ein Mann, der seinen Hals kaum noch bewegen kann. „Raketen sind Magneten“, fügt ein anderer mit langen Haaren und wuscheligem Bart hinzu.Am Abend trifft sich noch eine andere Gruppe von NATO-Gegnern – und sie sind jünger, zwischen 20 und 40 etwa. Im Café Neuland in der Innenstadt, einer Kneipe, sitzen sie zu acht – alle tragen graue Anzüge und rote Krawatten. Es ist der alle zwei Wochen tagende Stammtisch der Satire-Formation Die PARTEI.In letzter Zeit reden sie hier öfter über dieses NCIA-Ding, klar, auch sie sind gegen die Ansiedlungspläne der Stadt. „Ich bin eher so der Warschauer-Pakt-Typ“, sagt einer und lacht. Aber die Bochumer hätten schon Nokia „plattgemacht“, ein paar Jahre später dann Opel: „Da soll die NATO ruhig kommen.“
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