Oper in Zeiten des Aufstandes

Bühne Die Deutsche Oper Berlin gibt Verdis „Don Carlo“, und der Kritiker kommt nicht umhin, brennend aktuelle Themen mitzudenken und mitzuhören

Am Ende gab es in den Beifall gemischt auch deutliche Buh-Rufe für die Premiere der Freiheits- und Aufstandsoper „Don Carlo“. Man weiß nicht so recht warum. Es mögen auch ästhetische Gründe gewesen sein ( der Regietheater-Reflex), aber es können auch zumindest unbewusste politische Reaktionen gewesen sein: Das Charlottenburger Publikum bestand überwiegend aus jenem eleganten Bürgertum der „ein Prozent“, die in diesen Tagen und vermutlich auch für eine nicht absehbare Zeit die Zielscheibe der „neunundneunzig Prozent“ von Wallstreet über London und Frankfurt bis Berlin sind.

Auf der Bühne gezeigt wird die heimtückische Niederschlagung eines Volksaufstandes – nicht gerade ein opulentes Sujet für eine „grand opéra“ der schönen Arien und Kostüme, womit uns die Opernproduktionen des 19. Jahrhunderts reichlich bedient haben und noch immer bedienen. Verdi war ein humanistischer Revolutionär und Patriot und hat darum immer wieder explizit politische Dramen musikalisch zur Diskussion gestellt. Der italienische Regisseur der Berliner Don-Carlo-Inszenierung, Marco Arturo Morelli, würde es vermutlich empört zurückweisen, seine Lesart dieser Oper mit den Empörern von „Occupy Wallstreet“ in Verbindung zu bringen – und doch konnte der Kritiker sich nicht helfen, eben diese brennend aktuelle Thematik ständig mitzudenken und mitzuhören: Das große und großartige Treue-Schwur-Duett von Don Carlo und Posa im ersten Akt, das wie ein Leitmotiv immer wieder auftaucht, hat alle emotionalen Ingredienzen einer leidenschaftlichen Befreiungshymne, zu singen auf den besetzten Plätzen überall in der Welt, wo man es satt hat mit dieser Politik und diesen politischen Klassen.

Das ist keine leere Phrase: Im März dieses Jahres erhob sich das gesamte Publikum einer Nabucco-Vorstellung in Rom und sang gemeinsam mit dem Dirigenten Muti den Gefangenen-Chor im Protest gegen Berlusconis Italien als „bella e perduta“ - schön und verloren; der Finanzminister musste wenige Tage später die Kürzungen im Kulturhaushalt zurücknehmen. Die Oper kann, wenn sie gelingt, Energien freisetzen, von denen eine sich selbst als revolutionär verstehende Protestbewegung nur träumen kann – oder, vorsichtiger gesagt, die als Verstärker und Beschleuniger der Bewegung unschätzbare Kräfte bereit hält.

Ob sich das konkret an der Bismarckstraße ereignet, darf bezweifelt werden – aber auszuschließen ist es nicht. Vielleicht gelingt es ja einigen 99-Prozentualisten die kulturelle Hemmschwelle zu überwinden und den Einprozentuellen ihre Opernhegemonie wenigstens für diesen Fall streitig zu machen.

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