Von einer „Operation am offenen Herzen des Völkerrechts“ schrieb Otfried Nassauer neulich an dieser Stelle (s. Freitag vom 31. März 2011), als er die Intervention der NATO gegen Libyen analysierte. Diese Begrifflichkeit irritiert, operiert doch der Chirurg gemeinhin mit dem Ziel, die Genesung des Patienten zu befördern, nicht aber, um ihn stracks ins Jenseits zu befördern. Neben der Wahrheit als sprichwörtlich erstem Opfer des Krieges ist es gerade das Völkerrecht, das bei diesem von langer Hand gemäß der Parole Der Schlächter von Tripolis muss weg! betriebenen Regimewechsel auf der Strecke bleibt.
Einmal davon abgesehen, dass es für die von Machthaber Gaddafi vorgeblich angeordneten Massaker am eigenen Volk, auf denen die UN-Resolution 1973 beruhte, keinerlei belastbare Beweise gibt, offenbart eine wahrlich prophetisch anmutende Passage aus dem Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr eindrücklich, was es mit jener momentan in aller Munde geführten „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect/R2P) auf sich hat, die als Legitimationsformel für den zum Schutz der Zivilbevölkerung geführten Bombenkrieg der NATO herhalten muss. Dort, im Weißbuch, steht zu lesen: „Als Reaktion auf die Intervention im Kosovo 1999 ist die völkerrechtliche Lehre von der ‚Responsibility to Protect‘ entstanden. Auch wenn die Staaten, die sich diese Lehre zu eigen gemacht haben, wahrscheinlich noch nicht in der Mehrheit sind, prägt die Debatte um die ‚Responsibility to Protect‘ doch zunehmend das Denken westlicher Länder. Dies wird langfristig Auswirkungen auf die Mandatierung internationaler Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben. Denn gerade wenn es zum Einsatz militärischer Gewalt kommt, ist die völkerrechtliche Legitimation entscheidend.“
Keineswegs also verschafft der aktuelle Libyen-Krieg dem Prinzip Schutzverantwortung einen Präzedenzfall, wie Nassauer meint, ganz im Gegenteil: Bestätigt fühlen dürfen sich all jene Kritiker, die bereits vor mehr als zehn Jahren warnten, dass der NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien das Paradigma für den militärischen Zuschnitt der neuen Weltordnung liefert.
Doppelagent Moussa Koussa
Passagen wie die aus dem Weißbuch illustrieren, mit welcher Dreistigkeit die so genannte „Strategic Community“ des Westens sich daran machte, die Vereinten Nationen auf die Funktion eines Grüßaugusts zu reduzieren, der mittlerweile nur noch von der NATO in Szene gesetzte Globalisierungskriege abzunicken hat. Exakt in Letzterem nämlich liegt der eigentliche Zweck und wahre Charakter jener völkerrechtlichen Missgeburt namens Responsibility to Protect begründet. Untermauert wird dieser Befund durch den Umstand, dass die in der UN-Charta niedergelegten fundamentalen Grundsätze des Gewaltverbotes den Weißbuch-Schreibern keinerlei Erwähnung wert sind.
Darüber hinaus geben auch die immer klarer hervortretenden Hintergründe der zunächst im Osten Libyens auflodernden Rebellion gegen das Gaddafi-Regime zu gravierenden Zweifeln Anlass. Die ist offenkundig keinesfalls so spontan entstanden, wie dies beim Aufruhr in Tunesien, Ägypten, Jemen, Syrien oder Bahrain der Fall war – Libyen war von langer Hand geplant. So lief Außenminister Moussa Koussa Ende März mitnichten zufällig ins Lager der Gaddafi-Gegner über, hatte er sich doch bereits im Oktober 2001 – da führte er noch den libyschen Geheimdienst – von der CIA und der britischen Auslandsspionage des MI6 anwerben lassen und fungierte seither als Doppelagent. Mit seiner Hilfe gelang es westlichen Geheimdiensten, die libysche Administration zu infiltrieren und unschätzbare Einblicke in Strukturen und Vorgänge im Inneren des nordafrikanischen Landes zu erlangen.
Als wertvoller Verbündeter diente der CIA und dem MI6 dabei die während der frühen neunziger Jahre in Libyen gegründete Al-Jama’a al-Islamiyyah al-Muqatilah bi-Libya – die Libyan Islamic Fighting Group (LIFG) –, die ab 1995 zum Heiligen Krieg (Dschihad) gegen das säkulare Regime aufrief. Neben der LIFG, die momentan als Speerspitze der Rebellenverbände kämpft, arbeiten weitere oppositionelle Organisationen seit Jahrzehnten gut organisiert am Umsturz in Tripolis, unter anderem die National Front for the Salvation of Libya (Nationale Rettungsfront Libyens), die Libyan Constitutional Union (Libysche Verfassungsunion) sowie weitere Gruppierungen. Alle diese islamisch fundamentalistischen Verbindungen wurden seit Jahrzehnten von westlichen Geheimdiensten materiell ausgehalten und besonders von der CIA früher im Sudan, dann in Ägypten, auch in den USA selbst trainiert und ausgerüstet. Was derzeit in Libyen zu beobachten ist, erinnert frappierend an Vorgänge auf dem Balkan und in Afghanistan, wo einst die UČK beziehungsweise die Taliban gleichsam als temporäre Alliierte westlicher Interessen in Stellung gebracht wurden. Mittlerweile sickerte durch, dass die Aufständischen in Libyen mit Funkgeräten, Satellitentelefonen bis hin zu hochmodernen MILAN-Panzerabwehrlenkraketen ausgestattet werden, womit das von der UNO gegen alle Konfliktparteien verhängte Waffenembargo gebrochen wird.
Manöver „Southern Mistral“
Auch erscheint es extrem befremdlich, dass bereits im November 2010 Frankreich und Großbritannien beschlossen hatten, unter dem Code Southern Mistral vom 21. bis 25. März 2011 ein gemeinsames Manöver ihrer Luftstreitkräfte über dem Mittelmeer abzuhalten. Zufällig genau der Zeitpunkt, da in Libyen der Bürgerkrieg offen ausgebrochen war. Als frappierend realitätsnah entpuppt sich auch das Übungsszenario von Southern Mistral: In einem „imaginären Land“ namens SOUTHLAND soll „eine Diktatur“ bekämpft werden, die „verantwortlich für einen Angriff auf Frankreichs nationale Interessen“ sei. „Frankreich trifft die Entscheidung auf Grundlage der Resolution 3003 des UN-Sicherheitsrats, seine Entschlossenheit gegenüber SOUTHLAND zu zeigen“, heißt es auf der Website der französischen Luftstreitkräfte. Die dann auf den 15. März 2011 vorgezogene Luftwaffenübung wurde laut einer offiziellen Mitteilung der gleichen Quelle vom 25. März „abgebrochen“. Es liegt nahe, dass sie in Wirklichkeit in den Ernstfall gezielter Luftschläge übergegangen ist. Honni soit qui mal y pense – beschämt sei, wer schlecht darüber denkt.
Jürgen Rose ist Oberstleutnant a. D. und Vorstandsmitglied der Soldatenvereinigung Darmstädter Signal
Kommentare 9
Der Krieg gegen Jugoslawien ist auch ein Beispiel für die Propagandamechanismen, die im Fall Libyen wieder einmal wirken. Wie sie zur Rechtfertigung der Kriegseinsätze gegen Jugoslawien eingesetzt wurden beschreibt ein interessanter Beitrag aus einer Zeitschrift der österreichischen Armee von 2005. Darin heißt es u.a.: "So alt wie die Kriegsberichterstattung ist auch der damit verbundene Konflikt zwischen Wahrheit, Desinformation und Täuschung. Trotz des Bestrebens der
Journalisten, professionell, umfassend und wahrheitsgetreu über einen Krieg zu berichten, war und ist es ihnen auf Grund der Militärzensur, aus Gründen der Geheimhaltung oder aus politischen Rücksichten oft nicht möglich, ein
realistisches Kriegsbild zu zeichnen." Und dann wird am Beispiel Jugoslawien und auch der angeblichen Massaker der Serben in Sarajewo festgestellt: "Die diversen Beispiele zeigen, welche Gewaltbereitschaft durch Propaganda, Desinformation und Manipulation von Meinungen geweckt werden kann." Der
Autor Georg Geyer, Oberst des österreichischen Heeres, stellt dann fest: "Die Wahrheit im Krieg - so die Schlussfolgerung - ist eine eher zweitrangige Sache." Wie in Jugoslawien so in Libyen, wie in Sarajevo so in Misurata. Der Text ist in voller Länge hier zu lesen:
www.bmlv.gv.at/omz/ausgaben/artikel.php?id=316
Herr Rose beherrscht die nicht ganz so feine Kunst der Demagogie exzellent. Er baut seine Argumentation auf einer falschen Behauptung auf, um die vermeintlichen Fakten, die er damit schafft, zu widerlegen. Das ist ein Leichtes, aber eben auch leicht zu durchschauen, wenn man denn will. Die UN-Resolution beruht keineswegs auf "vorgeblich angeordneten Massakern", sondern auf dem Schutz der Zivilbevölkerung vor Angriffen. Nachzulesen unter anderem hier: www.un.org/Depts/german/sr/sr_11/sr1973.pdf Rose opfert also selbst die Wahrheit und das Völkerrecht, um den "Westen" zu kritisieren. Dieser bedarf in der Tat der Kritik, und das Drama in Libyen ist mehr noch als Jugoslawien geeignet, die NATO zu spalten, aber wir brauchen deutlich intelligentere Kritik als die billige Propganda des Herrn Rose.
Es begann mit einer Lüge.
video.google.com/videoplay?docid=-5884882720546967347#
ist hier von den gleichen "vereinten nationen" die rede die bei dem massaker in srebrenica zugeschaut haben?
Es ist darüberhinaus von der fanzösischen Armee die Rede, die vor einigen Jahren ein bißchen mehr getan hat als nur zuzuschauen, als in Ruanda, Burundi und Ost-Kongo schreckliche Massaker angezettelt wurden.
@ BendlerBlogger (21.04.2011; 16:26):
Es wäre allerdings mal ganz interessant zu erfahren, auf welche Weise die Zivilbevölkerung geschützt wird, indem Tripolis von einigen Truppen NATO - ach nein: der "westlichen Allianz" - bombardiert wird, oder indem die reguläre libysche Armee (Medien-Neusprech: "Gaddafi-treue Truppen") beschossen und bombardiert wird, wenn sie gegen Separatisten (Medien-Neusprech: "Rebellen" oder gar "Revolutionäre") interveniert.
Danke für diesen Artikel.
Bedrückend, dass das in Jugoslawien gefundene Muster immer weiter angewendet werden kann. (1) Einer der vielen Schlächter dieser Welt wird medial aufgeblasen (mit den anderen machen wir weiter unsere guten Geschäfte). (2) Chirurgische Eingriffe unterschiedlichen Ausmaßes töten tausende, zerstören die Infrastruktur, sichern aber Einfluss. (3) Wenn es gut geht, übernimmt die nächste korrupte Gangstergruppe die Macht im Land. (Wenn es schlecht läuft, haben wir einen weiteren "failed state".) (4) Ein paar Brunnen, Brücken und Schulen werden installiert, die alsbald wieder zerfallen. (5) Der Medienzirkus zieht weiter. (6) Militärbasen werden eingerichtet und bleiben.
Über den Leichen liegt ein Mantel aus Phrasen.
Das Misslingen der "Operation" hat wohl auch andere Gründe, z.B. ohne Bodentruppen ist es wohl praktisch nicht möglich wirklichen Schutz für eine Zivilbevölkerung herbeizuführen. Dennoch wäre es sicher vernünftig die Realitäten der post-9-11 Zeit zu überdenken und sich nicht hinter einer vermeintlichen Neutralität zu verstecken. Das langsam zum Standard-Argument gewordene: der Amerikaner ist an allem Schuld, ist schlicht dumm. Deutschland Wirtschaft ist viel zu sehr auf Exporte angewiesen. Wahrscheinlich ist es der Kapitalismus der den Krieg schafft.
Wie sollen wir denn sonst hier in Deutschland die bekannten Effekte eines Krieges limitieren. Mit Geld allein geht es nicht. Bekanntlich werden Flüchtlingsstrom-Regulation und Wiederaufbaukosten dem Steuerzahler abverlangt, während die Industrie Gewinne scheffelt. Und die lagert aus.
Abgesehen davon Deutschlands vermeintliche Friedfertigkeit und Friedenswille wird international ganz anders wahrgenommen als wir es hier in Deutschland glauben. Alleingang Deutschland ist schon zwei mal gründlich in die Hose gegangen. Und realistisch muss auch erkannt werden das Schröder ein Roter und Fischer ein Grüner war. Es waren nicht die Konservativen die Deutschlands Kriegsbeteiligung zu verantworten hatten. Natürlich hätten die Konserativen den gleichen Schritt getan wenn sie an der Macht gewesen wären, aber die Realität zeigt und das eine rot-grüne Politik nicht friedvoller ist, selbst wenn sie die Gelegenheit zum Nein-sagen gehabt hätte.
Es gibt dank der Genfer Konventionen die Möglichkeit die UNO Resolution zu rechtfertigen:
Das Protokol # I der Genfer Konventionen wurde 1977 erklärt. Da lebte sogar noch Tito. Da war weder von einem Krieg gegen Serbien die Rede noch in Planung. Der Fehler der begangen wurde war das Griechenland in die EU aufgenommen wurde ohne zugleich Jugoslawien vernünftige Alternativen anzubieten. Es ist also darum etwas naiv immer wieder mit dem Beispiel von Jugoslawien daher zu kommen, als hätte es keine Gefangenenlager in Omarska, in Prejedor, in Fodca gegeben und die Massenmorde in Ruanda und Bosnien seien alle ein Hirngespinst, Genauso wie die Millionen von Kriegsflüchtlingen die von einer gross-serbischen, nationalistischen Politik gewaltsam vertrieben wurden. Wer das leugnet macht sich bestenfalls lächerlich. Der Krieg gegen Serbien im Fall Kosovo war natürlich aus Angst vor einem Flüchtlingsstrom von Millionen von Albanern geführt worden. Europa wollte auf keinen Fall so viele Albaner aufnehmen. Aber auch hier muss ganz klar fest gestellt werden das Vertreibung das Ziel der Politik Milosevic's war! Vertreibung zutiefst faschistisch und muss gestoppt werden. Dazu braucht ein keine humanitäre sondern logische Entscheidung.
Es lohnt sich weiter in diesem Protokoll I der Genfer Konvention aus 1977 zu lesen, denn dort wurden im Artikel 51 54 Angriffe auf Zivilbevölkerungen, die mutwillige, absichtliche Zerstörung von Lebensmittel- und Wasser-Versorgung, sowie absichtliche Angriffe auf nicht-militärische Ziele mit Technologien deren Zerstörungsausmaß zuvor nicht bestimmt werden kann, als Kriegsverbrechen definiert.
Genau aus diesem Grund finde ich es persönlich auch sehr schade das NICHT von einer "regulären libyschen Armee", sondern nur von "Gaddafi-Truppen" gesprochen wird. Es ist diese "reguläre libysche Armee" die Streubomben-Munition verwendet, die Wasserversorgung zerstört und seit Monaten Lebensmittellieferungen unterdrückt.
Artikel 35 des Protokolls I der Genfer Konventionen verbietet diese Waffen (Streubomben) weil sie "cause superfluous injury or unnecessary suffering" erzeugen. Auch die libysche Regierung hatte dieses Protokoll ratifiziert.
In den Artikeln 43 44 wird Guerilla Kräften das Recht auf die Behandlung nach dem Kriegsgefangenen-Recht zugebilligt, wenn diese Guerilla eine zentrale Kommandostruktur aufweist (das ist etwas unklar in Libyen. Ich habe niemals einen Krieg erlebt, denke aber das auch der Widerstand im Warschauer Ghetto nicht illegal war, obwohl die Nazi das behauptet hatten, und das die Widerständler dort auch über keine zentrale Kommandostruktur verfügten um eine Unterwanderung durch einsickernde Spione zu erschweren.
Im Artikel 53 56 werden Angriffe auf religiöse Kulturstätten als Kriegsverbrechen definiert. Die "reguläre libysche Armee" hat bekanntlich besonders während der Freitags-Gebete in mehreren Städten Moscheen bombardiert.
In den Artikeln 15, 76,77 79 wird der Tatbestand eines Kriegsverbrechen erfüllt wenn Frauen, Kinder, medizinisches Personal und Journalisten absichtlich angegriffen werden.
All diese Tatbestände sind doch längst erfüllt. Die UNO Resolution stützt sich auf die Genfer Konventionen. Deutschland kann sich da heraus halten, aber die Rechnung werden wir alle zahlen. Wir haben ja Erfahrung damit gemacht als in Gaddafis Auftrag eine Disco in Berlin in die Luft flog.
Zur weiteren Lektüre empfehle ich von Rotes Kreuz:
www.redcross.org.au/ihl/media/IHL_responsibility-to-protect(1).pdf
Danke für diesen Kommentar. Ich glaube zwar nicht, dass Herr Rose mit allem unrecht hat, aber sein Artikel ist schon schwer darauf angelegt, nur die eine Seite darzustellen; propagandistisch eben.
Dass die Leute, die heute Armeen losschicken, immer auch oder vor allem eigennützige Motive haben – kein Zweifel. Deswegen ist aber die Idee einer demokratisch verfassten internationalen Gemeinschaft, die gemäß einem definierten und explizierten Regelwerk nicht nur die Beziehungen zwischen Staaten regelt, sondern im Extremfall auch fähig ist in innerstaatliche Konflikte einzugreifen, im Interesse des Schutzes von Menschenleben, Menschenrechten und rechtsstaatlichen Institutionen, eine gute Idee, gradezu eine Utopie. Ob es möglich ist heutzutage so etwas einzurichten ohne dass es vor allem für jene eigennützigen Interessen missbraucht wird, ist die andere Frage.