Opposition ist ein Modell des letzten Jahrhunderts

Theater muss sein Klaus Weise, neuer Intendant des Bonner Theaters, über Sparzwänge, die Unterschiede von Provinz und Metropole und die Notwendigkeit von Theater

1991 übernahm Klaus Weise (geboren 1951 in Gera, aufgewachsen in Mülheim an der Ruhr, Studium an der Münchner Filmhochschule) die Intendanz des Theaters in Oberhausen. Unter seiner Leitung wurde das Haus fünf Mal in Folge von der Theaterkritik als "Bestes Theater der Saison" im Rheinland gekürt. Weise war deshalb in den letzten Jahren für fast jede größere Intendanz, unter anderem in Frankfurt, im Gespräch. Seit der Spielzeit 2003/2004 ist er nun Chef des Bonner Drei-Sparten-Hauses.

FREITAG: Innerhalb eines Jahres hat Ihr Vorgänger Petersen im Auftrag der Stadt Bonn im Theater 105 Stellen abgebaut. Zudem wurde der Etat um 12,5 Millionen Euro reduziert. Umso mehr überraschte die Öffentlichkeit, dass Sie zu Beginn Ihrer Intendanz mit großzügiger Geste der Stadt nochmals 1,4 Millionen schenkten.
KLAUS WEISE: Es gab Rücklagen, aus denen heraus wir das hätten finanzieren können. Die eine Million ist aber vom Tisch, die bleibt uns erhalten. Ich hab das natürlich auch aus einem gewissen strategischen Grund getan. Ohne die von Herrn Beilharz und Herrn Petersen angesparten Rücklagen wäre das allerdings nicht möglich gewesen. Aber da Theater- und Kulturleute ansonsten sehr viel lamentieren über die knapper werdenden Finanzen, wollte ich der Bevölkerung, von deren Steuergeldern wir leben, auch mal zeigen, dass wir nicht nur immer fordern und drohen: Wenn die bösen Politiker uns nicht mehr Geld geben, dann müssen wir eine Sparte schließen oder weniger spielen. Die Zuschüsse hier in Bonn sind zwar auch deutlich weniger geworden, aber immer noch hoch genug, um, wie ich glaube, gutes Theater damit zu machen. Das war also eine psychologische Geste für die Steuerzahler der Stadt, die schließlich das Theater in zunehmendem Maße finanzieren, weil sich der Bund ja langsam verabschiedet.

Sind also die Klagen Ihrer Kollegen in Köln und Hannover nur Wehgeschrei oder anders gefragt, könnte Theater noch preiswerter zu haben sein?
Man kann immer Theater billiger machen, aber ich finde, das sollte man nicht tun, wenn man eine gewisse Qualität halten will. Da gibt es Limits, die man in der Tat nicht unterschreiten darf. In Bonn bin ich in der Situation, meinen Etat über fünf Jahre lang zu kennen. Das hatte ich in Oberhausen übrigens auch und mir hat nie jemand in laufende Verträge hineingespart oder hineinsparen wollen. Denn das ist nicht möglich. Wenn man in der laufenden Spielzeit erfährt, ich hab ab sofort weniger Geld, dann habe ich bereits Verträge und Planungen gemacht, die ich gar nicht mehr stoppen kann. Es wird ja leider immer sehr schnell diskutiert, ein Schauspielplatz kostet so und so viel, dabei sind die Krankenhäuser marode, die Schulen und Universitäten, die Straßen und die Schwimmbäder. Diese Debatte ist schrecklich, denn das alles kann ja mit Kulturgeldern ohnehin nicht finanziert werden. Andererseits stelle ich fest, dass die Finanzlage der Kommunen, der Länder und des Bunds doch ziemlich miserabel ist, warum sollte ausgerechnet die Kultur davon in irgendeiner Weise verschont bleiben. Man sollte sich allerdings davor hüten, über die saure Gurkenzeit, die sich ja hoffentlich auch mal wieder ändert, die substanziellen Strukturen der Theater zu untergraben, denn wenn die weg sind, werden sie nicht wieder aufgebaut.

Auf dem im November vergangenen Jahres einberufenen Kongress "Bündnis für Theater" war viel von Flexibilisierung und verbessertem Marketing die Rede. Zudem müsse das Theater wieder mehr auf die Bedürfnisse des Publikums eingehen. Heißt gutes Theater also in Zukunft vor allem profitables Theater, in dem für sperrige Projekte kein Platz mehr ist?
Das wäre völliger Unsinn. Wir legitimieren uns nicht über die Platzausnutzung. Wir möchten natürlich gut besucht sein, aber wir haben auch den Auftrag eben das zu tun, was kommerzielle Bühnen nicht tun können, aus gutem Grund, deswegen haben wir öffentliche Gelder, Steuergelder. Also muss unser Programm sich davon unterscheiden. Allerdings gab es mal eine Tendenz, nur ein relativ schlecht besuchtes Theater für gutes Theater zu halten. Das hat auch mit der historischen Entwicklung der Gesellschaft zu tun. Wenn sich verrostete, ästhetische Konventionen zu sehr eingefressen haben in die Herzen und die Köpfe der Besucher, dann muss man dagegen arbeiten, verunsichern, irritieren, auch um den Preis, das erst mal ein Publikum weg geht. Aber mittelfristig muss man natürlich ein neues, ein anderes Publikum gewinnen.

Das ist Ihnen in Ihrer Oberhausener Zeit ja auch gelungen. Das Publikum folgte Ihnen begeistert ins Klärwerk, auf den Gasometer oder in still gelegte Zechen. Im bürgerlichen Bonn dagegen wirken Ihre Inszenierungen wie bunte Geschenkpackungen, dekorativ und gefällig. Wollen Sie Ihrem Publikum nichts mehr zumuten?
Alles zu seiner Zeit. Gefälligkeit ist für mich keine ästhetische Kategorie, auch keine strategische. Das Wintermärchen war zum Beispiel eine Produktion, die ich in Oberhausen herausgebracht habe, die dort völlig anders rezipiert wurde als in Bonn. Das war für uns natürlich interessant festzustellen. Beim Tartuffe hat mich ein spezielles Problem interessiert. Wie kommt jemand wie Orgon, der ja nicht doof ist, dazu, dem System Tartuffe auf den Leim zu gehen? Ist es Naivität oder ist es Taktik? Nun muss man wissen, dass das Stück in einer, wie ich finde, ziemlich komplizierten Verssprache geschrieben ist, die der Simon Werle sehr gut ins Deutsche übertragen hat. Die Form erfordert deshalb eine gewisse Haltung der Sprache gegenüber, so wie die Welt dieses Bürgertums über ein gewisses Selbstverständnis von Schönheit, von Reichtum und Selbstdarstellung verfügt. Was möglicherweise genau der Punkt ist, der Orgon nervt, weswegen er diese Welt zerstören will. Und all diese Dinge werden in der Ästhetik der Aufführung mitreflektiert; diese immanente Tendenz des Bürgertums zur Selbstzerstörung. Damit etwas zerstört werden kann, bedarf es auch eines gewissen Glanzes der Demonstration dessen, was erreicht wurde.

Ist denn mit der vertrauten Ästhetik des psychologisch-differenzierten Theaterspiels die Situation des Einzelnen in unserer heutigen, immer mehr durch die Medien beeinflussten Gesellschaft überhaupt noch beschreibbar? Muss man nicht nach neuen Ausdrucksformen, nach neuen Theatersprachen suchen?
Na ja, wir bemühen uns darum. Sicher hat das Theater die Aufgabe, eine ästhetische Opposition gegen die Gesellschaft zu sein. Das ist ein Teil des Theaters. Wobei ich da unsicher bin, weil ich immer weniger glaube, dass die Gründe dafür, dass in unserer Gesellschaft keine Opposition mehr stattfindet, in der Dummheit der Leute zu suchen wäre, sondern vielmehr damit zu tun hat, dass dieses übliche Pro und Contra, also These, Antithese, sich in Opposition begeben, dass das alles ein Modell des letzten Jahrhunderts oder sogar des vorletzten Jahrhunderts ist, also aus dem Frühkapitalismus stammt, der sich nun fortentwickelt hat. Es gibt die Studentenbewegung nicht mehr. Es gibt auch im Bereich der Kunst nicht mehr diese Kraft, die es ´68 gab. Damals musste sich etwas gegen die verkrustete Gesellschaft aufbäumen, sonst wären wir alle erstickt. Diese gesellschaftlichen Verkrustungen sind in der Form heute nicht mehr vorhanden. Ich glaube, dass es heute viel mehr darum geht, die Möglichkeiten unserer Gesellschaft zu entdecken und auszuschöpfen und vielleicht weniger um ein Oppositionsmodell. Letzteres braucht man in sehr engmaschigen Gesellschaften, unsere ist dagegen tendenziell eine, die sich erweitert, durch Globalisierung, durch den Euro, durch die Öffnung von Grenzen. Ich denke also, dass das Oppositionsmodell möglicherweise gar nicht mehr das Zündende und Richtige ist.

Aber muss denn Theater nicht auch Widerstand entwickeln, Gegenentwürfe aufzeigen?
Ja, aber der Gegenentwurf besteht eher darin, das man sich damit beschäftigt, wie umfangreich, wie widersprüchlich ist der Mensch und wie wird möglicherweise in unserer Wirklichkeit der Mensch immer mehr abgehobelt, wie flach wird er gemacht, wie eng wird er gedacht, wie sehr ist er Gegenstand von Kommerz, Gegenstand von Werbung, wie sehr ist er Konsument in allen Bereichen. Demgegenüber hat das Theater oder die Kunst generell ein sehr differenziertes, ein sehr kompliziertes Bild des Menschen zu setzen und zu entwickeln. Damit haben wir die Aufgabe einer gewissen Rückerinnerung an ein, wenn Sie so wollen, humanistisches Menschenbild. Das ist auch Opposition.

Wie würden Sie denn die unterschiedlichen Aufgaben definieren, die ein Theater in Bonn, Aachen oder Essen wahrzunehmen hat im Gegensatz zu Häusern in Metropolen wie Hamburg oder Berlin?
Wir können uns hier nicht den Kuchen aufteilen und wie zum Beispiel in München sagen, die Kammerspiele haben dieses Profil, das Resi macht jenes. Da kann sich ein Publikum entscheiden, in das eine oder andere Haus zu gehen oder in beide. Wir müssen hier in der Breite Unterschiedliches anbieten. Es gibt kein Konkurrenzunternehmen, das mit unserer Oper, unserem Schauspiel unserem Tanztheater vergleichbar wäre. Deswegen beschäftigen wir uns mit ganz unterschiedlichen Stoffen, mit unterschiedlichen Ästhetiken, die sich an diesen Stoffen festmachen. Was ich erreichen möchte, ist, dass wir in den verschiedenen Spielstätten ein eigenes Profil gewinnen. Das jemand, der in die Werkstatt geht, weiß, da findet etwas wahnsinnig Witziges statt oder etwas sehr Unverschämtes oder etwas, was in der Erzählstruktur gar nicht mehr zu definieren ist. Wenn jemand in die Kammerspiele geht, steht die Beschäftigung mit Literatur und mit Bildern, mit denen wir diese Literatur zum Ausdruck bringen, im Vordergrund. Und wenn man in die Halle Beul geht, ist das ein anderes Profil, ob das jetzt ein großes Griechenprojekt ist oder eines das in der Verschmelzung verschiedener Stücke entsteht. Mein Wunsch wäre, dass diese Profile in der Breite dann so nebeneinander stehen, wie das in Berlin mit verschiedenen Häusern der Fall ist. Das hat nichts mit Pluralismus oder Beliebigkeit zu tun, sondern mit einer ästhetisch genauen Untersuchung.

Unter Ihrer Ägide soll auch die "Bonner Biennale", von Manfred Beilharz aus der Taufe gehoben und überregional wie international beachtet, ein neues Gesicht erhalten. Im Juni 2004 wird sie wieder stattfinden. Was wird gezeigt?
Nun ja, das kann ich Ihnen jetzt noch nicht verraten. Ich kann Ihnen nur eine völlig andere Strukturidee der Biennale benennen. Herr Beilharz hat europäisches Autorentheater veranstaltet. Aber heute haben wir offene Grenzen und den Euro; ein europäisches Kulturfestival hat da auch etwas Anachronistisches. Es wäre mir viel lieber, man würde europäische Theaterkultur in den Alltag unserer Spielpläne integrieren. Also wenn ich einmal im Monat ein Theater aus Paris, eines aus London, aus Barcelona einladen könnte. Und wir dann mit einer Produktion nach Barcelona gingen. So ein Austausch würde mich viel mehr interessieren. Deshalb dachte ich, dass es sinnvoller wäre, mal in entferntere Regionen zu schauen. Und da bin ich sehr schnell auf New York gekommen, als ein ungeheuer kreatives Zentrum. Was passiert mit der darstellenden Kunst in Amerika? Nicht ausschließlich im Bereich des Schauspiels, sondern da gehören auch Formen des Musiktheaters dazu, Formen der Literatur, da kann der Film, da können Vorträge dazu gehören. Ich möchte von verschiedenen künstlerischen Feldern der Öffentlichkeit ein Angebot bieten.

Doch das kostet Geld, ebenso wie der reguläre Spielbetrieb. Hans Lietzau und Ernst Wendt haben einmal vor vielen Jahren gefordert, man solle die Provinzbühnen "zumachen oder abbrennen." Einige Kommunalpolitiker denken vor dem Hintergrund leerer öffentlicher Kassen heute ganz ähnlich. Wie sieht nach Ihrer Einschätzung die Zukunft des Stadttheaters aus? Wird in zehn Jahren die Theatersonne nur noch in wenigen Großstädten scheinen?
Da scheint sie doch auch jetzt schon nicht. Entschuldigung, also ich weiß nicht, was Provinz sein soll. Schließlich wurde in Berlin das Schillertheater liquidiert.

Aber es gibt den Hauptstadtkulturfonds. Und natürlich wird immer Geld nach Berlin fließen. Aber bleiben die mittelgroßen Stadttheater, bleibt unsere weltweit einzigartige Theaterdichte erhalten?
Ich bin da zuversichtlich. Da wir Theaterleute bei Politikern relativ wenig Unterstützung erfahren - früher war das glaube ich mehr der Fall -, müssen wir unser Tun immer wieder neu unter Beweis zu stellen. Und zwar, indem wir fürs Publikum spielen und uns beim Publikum unersetzbar machen. Und wenn uns das gelingt, dann wird es uns auch weiterhin geben. Auch wenn sich an der Theaterstruktur zukünftig Wesentliches ändern wird, bleibt doch das Bedürfnis nach Theater davon unberührt. Ich bin kein Freund der These, wir müssten die Gesellschaft in die Pflicht nehmen, wir müssten am besten in der Verfassung verankert werden. Sollte denn der Weg unserer Zuschauer am Theater vorbei gehen, dann haben wir möglicherweise was falsch gemacht. Und dem können wir nicht gegensteuern, indem wir uns in die Verfassung hineinschreiben. Ich glaube im Gegenteil, dass jede Aufführung, jede Premiere selbst den Beweis einer gewissen Notwendigkeit des Theaters erbringen muss.

Das Gespräch führte Inge Jagalla


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