Ordnung und Gewalt

Ausstellung Aby Warburg war ein Erneuerer, der die Kulturwissenschaften geprägt hat. Sein Wirken reicht bis in eine Schau, die Georges Didi-Huberman jetzt in Madrid kuratiert hat

Der Hamburger Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg (1866-1929) gilt als Erneuerer gleich mehrerer Disziplinen, die unter dem Titel Kulturwissenschaften zusammengefasst werden. Für sie bastelte er sich Werkzeuge selbst und erfand neue Begriffe. Warburg interessierte sich für das „Nachleben der Antike“ und den „Ausdrucksschatz der Menschheit“, die als „Pathosformeln“ der Gebärdensprache das Arsenal der Symbole darstellen. Sie sind auf „Wanderstraßen“ unterwegs, und zwar von „Bagdad bis Wittenberg“. So weit erstreckte sich für ihn die westliche Sphäre gemeinsamer Religionskulturen, die oft unter das Zeichen der Feindschaft gestellt sind. Wie kaum ein anderer zeigte Warburg, wie sehr exzessive und unheimliche Gewalt zum Kern Europas gehören.

In seinen letzten fünf Lebensjahren war er von einem Projekt geradezu getrieben: dem Bilderatlas, benannt nach der Mutter der Musen, Mnemosyne, dem griechischen Wort für Erinnerung. Bei Warburgs Atlas handelt es sich um eine Versuchsanordnung, um Wissen zu sammeln, zu speichern und zu ordnen. Allerdings so, dass es jederzeit verändert werden kann. Dazu dienten Warburg große, mit schwarzem Tuch bezogene Schautafeln, auf denen Fotografien von Kunstwerken, aber auch von Briefmarken, Werbeplakaten, Zeitungsausschnitten und ähnlichem mit Nadeln aufgespießt waren. An ihnen erläuterte Warburg seine Vorhaben: Ausstellungen, Vorträge, selbst den Aufbau seiner Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, die er als Laboratorium verstand. Warburg konnte den Atlas nicht abschließen – dass er aber Künstler angeregt hat, davon zeugt eine aktuelle Ausstellung im Museo Nacional Reiña Sofia in Madrid.

Ihr Kurator ist Georges Didi-Huberman, Pariser Bildwissenschaftler und Philosoph, der seit einigen Jahren gerade in Deutschland ein Publikum gefunden hat. Vor ein paar Wochen ist dessen großes Warburg-Buch erschienen (Das Nachleben der Bilder, Suhrkamp). Die Ausstellung in Madrid liefert dazu die Fortsetzung in der Wissenskultur und Kunst von 1900 bis heute.

Die Methode "Atlas"

Für Didi-Huberman ist der Atlas das schöpferische Prinzip „Atlas“. Es gilt der Faszination visueller Nachbarschaften, führt zur Montage von auf den ersten Blick unterschiedlichen Bildern, die zusammenhängen, und erweist sich so als produktiv für Experimente, die Genres, Techniken, Disziplinen überschreiten, Kunst und Wissenschaft verbinden. Das Denkbild des Lumpensammlers von Walter Benjamin nutzt Didi-Huberman, gerade weil der sich für das Weggeworfene, Liegengelassene und Vergessene interessiert.

So sind in der Ausstellung nicht die bekannten Werke der jeweiligen Künstler versammelt. Nicht die Aquarelle von Paul Klee, sondern dessen Herbarium, nicht die farbigen Flächen von Josef Albers, sondern dessen Fotos präkolumbianischer Architektur. Vertreten sind Künstler, die selbst mit „Atlas“ arbeiten wie Gerhard Richter. Vorherrschendes Medium ist die Fotografie wie bei Robert Rauschenberg und Sol LeWitt. Die Methode „Atlas“ dirigiert die Tafeln mit Meerestieren von Ernst Haeckel, ihre dunklen Seiten hat sie in den Typologien von rassistischen Lebenswissenschaftlern wie Cesare Lombroso und Eugenikern wie Francis Galton. Sie alle machen die Ausstellung zu einer Schau des Unmöglichen und doch Verbundenen, der Gewalt und der Ordnung.

Atlas. How to carry the world on ones back? Museo Nacional Reiña Sofia, Madrid, Bis 28. März

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