Ostdeutsch geprägt, gesamtdeutsch verantwortlich

ZUM TOD VON REGINE HILDEBRANDT Wahrscheinlich ist es unmöglich, in den neuen Ländern jemanden zu finden, der Regine Hildebrandt nicht kannte. Es gab eine Zeit, da war sie nicht nur ...

Wahrscheinlich ist es unmöglich, in den neuen Ländern jemanden zu finden, der Regine Hildebrandt nicht kannte. Es gab eine Zeit, da war sie nicht nur brandenburgische Sozialministerin, sondern das ostdeutsche Gewissen der SPD. Sie prüfte Vorschläge ihrer Partei auf Tauglichkeit im Osten, sie kommentierte, billigte oder verwarf. Die SPD jenseits der Elbe verdankt ihr einen Großteil sozialer Glaubwürdigkeit und damit feste Verankerung vor allem in Brandenburg. Sie verdankt ihr, dass Kontinuität bis zu Bebel, Clara Zetkin, Rosa Luxemburg gedacht wurde, dass Anknüpfen an - weitgehend idealisierte - Geschichte möglich war.

Regine Hildebrandt stand für ostdeutsches Selbstbewusstsein. Keine andere Politikerin konnte so viel Gradlinigkeit vermitteln, so glaubhaft machen, dass DDR-Sozialisation der politischen Klasse der Bundesrepublik Durchsetzungskraft verleihen kann. Sie bewies: Auch in der SPD können Ostdeutsche gut aufgehoben sein, selbst dann, wenn sie sich weigern, ihre Herkunft mit Entschuldigungsformeln zu umschreiben. Niemand sonst hat versucht, Sinnvolles unabhängig vom Herkunftsort durchzusetzen. Niemand sonst hat gleich nach der Wende in der DDR-Truhe zu kramen gewagt, um nach Brauchbarem zu suchen. Sie fand zum Beispiel den spartenübergreifenden Ärzteverbund, üblich in den Polikliniken der DDR, der sich heute - endlich - etabliert. Regine Hildebrandt wollte ihn schon vor zehn Jahren.

Als Biologin hatte sie sich 1989 in die Politik gestürzt wie eine, die hinter geschlossenen Türen die Gefahren des freien Felds ahnt. Bürgerbewegt, im christlichen Glauben geprägt, aber mit jeder Faser von Herz und Körper diesseitig. Menschenfreundlich, deftig, direkt und ohne die Scheu, irgendwann anzuecken. Für sie galt kein Maulkorb. Sie akzeptierte keine Formelweisheiten und gestanzten Dogmen. Sie nahm sich das Recht, sich und ihre Überzeugungen ernst zu nehmen. Und ihre Wähler. Mit aller Kraft war sie 1989 losgerannt, merkte erst allmählich, wie oft man die Zielmarken verrückte. Politik hatte für sie - das machte sie ihren Wählern ähnlich - noch etwas ursprünglich Aktives: Den Menschen dienen, deren Interessen durchsetzen. Parteipolitische Abgrenzung vor alles andere zu setzen, war ihr fremd. Sie nahm sich das Recht, Politik als Möglichkeit zur Durchsetzung lebbarer Strukturen zu sehen - alles zu wollen, privates und gesellschaftliches Glück. Ihr wacher Verstand verhinderte, dass der Pfahl von gestern die Pflöcke von Heute verdeckte. Die Gefahr, über die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit die Zumutungen der Gegenwart zu übersehen, bestand für sie nie. Was nicht heißt, sie hätte sie verhindern oder auch nur signifikant abmildern können. Es spricht für das politische Verständnis ihrer Wähler, dass ihr Image darunter nie litt.

"Den eigenen Werten vertrauen" war so etwas wie ihr Lebensmotto. Es trug sie durch eine glückliche Ehe, eine erfüllte Berufstätigkeit in der DDR und eine politische Karriere im wiedervereinigten Deutschland. Als dieser Grundsatz Schaden zu nehmen drohte, war ihr Integrität mehr wert als politische Karriere. Eine Koalition mit der CDU hätte ihr Lebenswerk ad absurdum geführt. Sie stand nicht für Sozialpolitik mit gebremstem Schaum. Zu sehen, wie sozialdemokratische Bäume gerade auf diesem Gebiet gestutzt und beschnitten wurden, muss eine schmerzhafte Erfahrung ihres letzten Lebensjahres gewesen sein.

Regine Hildebrandt, die so schnell und präzise reden konnte wie andere nicht einmal denken, die Unbezähmbare, Zupackende, war trotz ihres Amtes im SPD-Parteivorstand an den Rand gerutscht. Nicht nur, weil die Krankheit kürzere Schritte erzwang. Der rasende Zug in die Mitte hatte sie an die Wand geschleudert. Was ihr an Stimme blieb, war - unverwechselbar in der Mundart - leiser geworden. Immer noch ostdeutsch: eine von denen, die auf andere Art denken, formulieren, begründen. Vom Anspruch, gleichberechtigt mitreden zu wollen, hat sie nichts zurückgenommen. Ostdeutsch geprägt, gesamtdeutsch verantwortlich, aufsässig, aber nicht unbelehrbar, kämpferisch bei Einhaltung demokratischer Regeln, humorvoll und prinzipientreu loyal. Solche wie Regine Hildebrandt werden es schwer haben, in der veränderten Sozialdemokratie zu wirken. Sie werden einer ostdeutschen Bevölkerung fehlen, die in allen Parteien Vertreter braucht, um ihren Anspruch auf Selbstbestimmung über Mitbestimmung durchzusetzen.

Sie starb am Beginn dieser Woche, wenige Tage nach ihrem letzten öffentlichen Auftreten.

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