Pandämonium

Kehrseite II Jetzt, nachdem ich tot bin, kann ich leichter darüber reden. Woran merkst du, dass du an einem Ort nicht mehr zu Hause bist? Kriechen die Wände auf ...

Jetzt, nachdem ich tot bin, kann ich leichter darüber reden. Woran merkst du, dass du an einem Ort nicht mehr zu Hause bist? Kriechen die Wände auf dich zu, wenn du nicht hinblickst? Verschwinden Dinge, die du immer an dieselben Orte legst? Oder was ist mit den Menschen, die dich umgeben: Sind sie plötzlich anders? Verstehen sie dich nicht mehr, gerade so, als würdest du eine andere Sprache sprechen? Schlimmer noch: Vielleicht verstehen sie dich, doch du selbst bist wieder einmal ein anderer geworden, und sie sind immer noch dieselben.

Wie es scheint, sitze ich schon seit Stunden hier und rauche eine Zigarette nach der anderen. Die Fenster sind zu zwei Dritteln aus Milchglas, darüber schlagen Zweige an die Scheibe. Wenn sie mir meine Kleider zurückgeben, kann ich endlich gehen. Ich will nicht mehr diese Zeitschriften lesen, will nicht mehr unter Verrückten sein.

Nachts erwache ich und weiß nicht mehr, wo ich bin. Nicht, dass das etwas Besonderes wäre, nur ist es lange nicht mehr vorgekommen. Neben mir atmet ein Mensch, eine Frau. Leise erhebe ich mich aus dem Bett und trete an das Fenster der kleinen Wohnung hoch über den Dächern der Stadt - einer dieser Plätze, von denen es tausende gibt und an denen ich schon immer war. Teppichboden unter meinen nackten Füßen, Weingläser und ein voller Aschenbecher auf dem Tisch. Draußen tobt ein Sturm, als wäre er der erste seiner Art: Die Bäume neigen sich fast bis zum Boden, die Straßen sind menschenleer. Müll treibt aus umgestürzten Tonnen über das Pflaster, und Wolken jagen den Himmel entlang, als müssten sie noch den Morgen erreichen, bevor sie vergehen. Im Zimmer ist es heiß, mein Atem kondensiert an der kalten Scheibe. Wo soll ich nur hin?

Der Raum liegt im Halbdunkel. Hinter der Ärztin stapeln sich Aktenberge auf einem Schreibtisch. Eine Stehlampe zwischen uns beleuchtet ihr Gesicht nur zur Hälfte.

"Wird das jetzt ein Verhör?", frage ich.

"Nein", antwortet sie freundlich. "Wissen Sie, wo Sie hier sind?"

Ich zucke nur mit den Schultern und fahre fort, auf meine Finger zu starren. Es sind überall Kratzer darauf, ein Fingernagel ist eingerissen.

"Woher haben Sie diese Wunden?", möchte sie wisssen.

Ich antworte jovial: "Wenn ich das nur wüsste." Ich kann an ihrem Gesichtsausdruck sehen, dass dies die falsche Antwort war.

Wenn du ein Blatt vor dein Auge legst und hindurchblickst, siehst du nur grünes Licht. Ich denke manchmal darüber nach, welche Dinge mir früher Angst gemacht haben - sie kommen mir jetzt meistens klein und lächerlich vor. Heute kenne ich Dinge, die viel größer, abgründiger oder bösartiger sind, und diese sind es jetzt, die mir Furcht einflößen. Nachts liege ich in meinem Zimmer und verfolge diesen Prozess in die Zukunft: Dort im Dunkel lauern Bedrohungen von solch monströsen Ausmaßen, dass ich jetzt nicht einmal in der Lage bin, sie zu sehen. Vielleicht wandere ich genau in diesem Moment über die Schuppen eines Ungeheuers, doch mir kommt es nur wie ein holpriger Weg vor.

Als sie mich gehen lassen, fällt ein warmer Regen. Am Tag zuvor wollten mich Menschen besuchen, die ich angeblich kenne, doch ich habe der Ärztin gesagt, dass ich sie nicht sehen will. Der Sturm liegt immer noch in der Luft wie ein Flirren, wie das Gefühl in den Fingern und Zehenspitzen, wenn du eine unsichtbare Grenze überschreitest.

Ich werfe die Medikamente weg, die sie mir mitgegeben haben. Ein Auto fährt an mir vorbei, ein alter schwarzer Wagen. Darin sitzen drei Jugendliche auf dem Weg zum Krankenhaus, mit blauen Augen, blutigen Bandagen und nackten Oberkörpern. Obwohl es noch früh am Tag ist, lastet die Hitze schon schwer auf der Stadt. Ich blinzele einmal, zweimal, der Wagen ist vorüber.

Stefan Boskamp (*1973) lebt und arbeitet als Arzt in Hamburg.


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