Fantasie & Realität Viele Kinderbücher haben kaum etwas mit dem echten Leben zu tun, sondern zeichnen eine Heiti-deiti-Idylle. Ein paar Kleinverleger wollen das nun ändern
Eine Glocke besteht aus zwei Teilen: aus der Glockenhaube und aus einem Klöppel. Der Klöppel lässt es „bimmeln“, indem er hin und her schlenkert und an den Rand der Glockenhaube stößt. Und genau das tut der „Pimmel“ auch, wenn er an den Hoden entlang schlenkert. Nur, dass dabei kein Ton erklingt. Das ist bestimmt auch besser so.
Was klingt wie ein Ausschnitt aus einem Sexualaufklärungsbuch für Grundschüler, ist die Beschreibung des Wortes „Pimmel“ im Herkunftswörterbuch Warum heißt das so? des Klett Kinderbuchverlags aus Leipzig. Vor dem Pimmel kommen Palme und Pampe, es folgen Pipi und Pirat. „Das sind die Wörter, mit denen Kinder kommunizieren, und die in jedem Kindergarten mehrmals tägli
mehrmals täglich zu hören sind“, erklärt Verlegerin Monika Osberghaus das Konzept. „Im Gegensatz zu anderen Kinderbüchern lassen wir diese Alltagswörter nicht sofort von einem Erwachsenen auffangen und richtigstellen – wir erklären sie einfach.“ Anders als die anderen sein und somit eine Lücke im Kinder- und Bilderbuchsegment schließen, das ist das Ziel des Verlags Klett Kinderbuch – der, 2008 gegründet, selbst noch in den Kinderschuhen steckt und dessen Gründungsgeschichte bilderbuchhaft ist.1996 übernimmt die damals 33-jährige Monika Osberghaus die Redaktion der Kinderseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zweimal im Jahr landen die Verlagsvorschauen fürs nächste Halbjahr auf ihrem Schreibtisch. Akribisch studiert sie die Programme, schätzt ein, wählt aus. Neben ihr liegt stets ein Zettel, auf dem sie drei Fragen beantwortet: Was sind die Themen? Was sind die Trends? Was fehlt? Von Jahr zu Jahr wird die letzte Liste länger. Osberghaus veröffentlicht schließlich zwei Bücher, in denen sie ihre persönlichen Top 50 der Kinder- und Bilderbücher vorstellt.Vor zwei Jahren kommt dann das Angebot vom Klett Schulbuchverlag: Ob sie Lust habe, Bücher zu verlegen, die ihrer Meinung nach auf dem deutschsprachigen Kinderbuchmarkt fehlen? Osberghaus hat. Ihr fehlen Bücher für Kinder von Müttern, wie sie selbst eine ist. Ihr fehlt der Alltagsbezug. Das Authentische. Das Ehrliche. Das Widerspenstige.Keine Quietschidylle„Ich möchte Geschichten erzählen, in denen die Kinder sich und ihren Lebensalltag wiedererkennen können. Denn das finde ich auch persönlich an Literatur toll.“ Der deutschsprachige Kinderbuchmarkt ist ihrer Ansicht nach überfüllt von kitschigen Bilderbüchern, aufwändigen Sachbüchern und therapeutischen Problemlösebüchern. Sie verlegt echte, einfache Geschichten. Die Kindergartenbilderbuchsoap Die kleinen Zwerge etwa berichtet episodenhaft aus dem Kindergartenalltag. Da ist die Mutter morgens gestresst, weil sie zur Arbeit muss, da ist das Klo verstopft, und beim Weihnachtsbesuch im Altersheim treffen die Kinder auf eine Alzheimerpatientin. „Das heutige Kinderleben gleicht nur in den seltensten Fällen einer Quietschidylle. Die aktuellen Kinderbücher sind zu brav. Die Autoren haben eine Schere im Kopf und bieten den Verlagen gar nicht erst etwas Provokantes an.“Wichtig ist Osberghaus auch ein gewisser intellektueller Anspruch der erwachsenen Mitleser: „Eltern lesen ein Kinderbuch hunderte Male vor und nutzen es damit viel intensiver als jede andere literarische Form.“ Indirekt hat das Kinderbuch damit zwei höchst anspruchsvolle Zielgruppen. „Natürlich kann ich das Kinderbuch nicht neu erfinden. Trotzdem finde ich, dass unser Verlag unvergleichbar ist, sonst würde ich ihn nicht machen.“Auf die Frage nach weiteren guten Verlagsprogrammen nennt sie dennoch ein paar Namen: Hanser, Beltz Gelberg oder Carlsen überraschen ihrer Ansicht nach immer wieder mit anspruchsvoller, besonderer Kinderliteratur. Doch sind es vor allem die kleinen, unabhängigen Verlage, die sich an neue Formen des Kinderbuchs trauen. Thomas Wolff kann auf ähnliche Erfahrungen zurückblicken wie Monika Osberghaus. Als Autor schreibt der 42-Jährige für die großen Verlage Oetinger, Carlsen und Ravensburger. Nebenbei betreibt er in Eigenregie den Frankfurter Kinderbuchverlag Wolff.Bücher lösen keine Probleme„Eigentlich habe ich den Verlag nur gegründet, um ein Buch zu verlegen, das einfach keinen Abnehmer fand.“ Wolff schätzt die Möglichkeit, dem Mainstream entfliehen zu können. Seine Bücher sollen in erster Linie den Kindern gefallen, nicht den erzieherischen Anspruch der Eltern erfüllen. „Natürlich kann es in gewissen Situationen hilfreich sein, Themen wie Scheidung oder Tod zu verarbeiten. Aber ein Kinderbuch ist kein Problemlöser.“ Wolffs Bücher sollen die Kinder zum Lachen bringen, ohne den literarischen Anspruch zu verlieren. „Kinderbücher müssen auch beim dreißigsten Mal lesen noch Entdeckungen bieten können. Als Paradebeispiel ist hier wohl Die Elefantenwahrheit zu nennen.“Die Elefantenwahrheit, ein Buch über fünf blinde Wissenschaftler, deren Sonnenbad von einem Elefanten buchstäblich überschattet wird. Das Forschungsinteresse ist geweckt, neugierig wird das Ungetüm von allen Seiten betastet. Da werden die Ohren zum Teppich, das Bein zum Baumstamm, der Schwanz zur Klobürste und der Rüssel zum Feuerwehrschlauch. „Eine kluge und philosophische Geschichte über Wahrheit, Einbildung und die Unmöglichkeit einer letzten Antwort“, heißt es in der Beurteilung des von der Stiftung Buchkunst prämierten Werkes. „Die meisten Verlage trauen den Kindern zu wenig zu“, meint Wolff. „Das sind die fantasievollsten Leser, die wir haben. Kinder haben ein Recht auf niveauvolle Literatur!“Im Jahr 2007 veröffentlichte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine umfassende Studie zum Kinder- und Jugendbuch-Markt. Erwartungsgemäß bilden Eltern und Großeltern den größten Käuferkreis; 69 Prozent der Käufer sind weiblich. Die Maxime bei der Kaufentscheidung scheint klar: Lesen eröffnet neue Welten und trainiert Kompetenzen. Durch derlei „Wissensanfütterung“ wollen Eltern und Großeltern die Kinder früh fördern.Mladen Jandrlic ist jedoch der Überzeugung, dass das Genre der Kinderliteratur unterschätzt wird. Der 50-Jährige ist als Autor und Lektor tätig, hat eine Agentur für Bücherrechte und ist in der Branche als Kinderbuchexperte bekannt. „Das Schreiben von Kinderbüchern ist die anspruchsvollste Tätigkeit eines Autors“, ist Jandrlic überzeugt. „Man muss sich in das Innenleben von Kindern hineinversetzen können und schreibt nicht in seiner eigenen Sprache – diese Gratwanderung zwischen Verniedlichung und Überforderung gelingt nicht allen Autoren.“Als entscheidendes Kriterium betrachtet er die Qualität der Illustrationen. „Es geht im Kinderbuch nicht darum, ästhetisch und handwerklich perfekte Bilder zu zeigen. Die Darstellungen müssen interessant sein, Hand in Hand mit dem Text gehen und von den Kindern weiter interpretiert werden können – so entstehen Gespräche.“ Auch für Jandrlic stehen Humor und Vergnügen im Vordergrund. Dabei müssen Kinderbücher die Fantasie der Leser beflügeln und sie gleichzeitig befrieden können. Fantasievolles PublikumWohl in keiner anderen Lebensphase haben die Inhalte von Büchern so eine starke Wirkung wie in unseren ersten zehn Lebensjahren. „Der verhältnismäßig geringe Erfahrungshorizont eines Kindes regt die Fantasie zwangsläufig an: Dinge, die es selbst noch nicht erlebt hat, müssen im Kopf verbildlicht und lebendig werden. So entstehen Anregungen zur Entwicklung eigener Geschichten, zur Umsetzung des Gelesenen ins eigene Spiel, kurz gesagt: Die Kreativität wird gefördert“, sagt Karl Ludwig Holtz, Psychologe und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.Verhaltensänderungen durch Schriftsprache, insbesondere in der Kinderliteratur, bilden einen seiner Forschungsschwerpunkte. Um den Inhalt eines Buches zu verstehen, ist eine Grundvorrausetzung, sich in andere Personen, Handlungen und Zusammenhänge hineinversetzen zu können. Nicht zu unterschätzen sei deshalb der Faktor der emotionalen Intelligenz, der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, die durch Kinderliteratur gefördert wird. Dazu kommen Sprachentwicklung, Erweiterung des Wortschatzes und die Fähigkeit, sich gut ausdrücken zu können.Über alle Altersgruppen hinweg sind den Käufern das Thema und die Spannung am wichtigsten. Erwachsene suchen Kinder- und Jugendbücher verstärkt auch nach den Kriterien Sprache und Wissensvermittlung aus. Illustrationen, Ausstattung und Wertigkeit eines Buches spielen bei der Auswahl eine untergeordnete Rolle.Warum funkeln Diamanten? Wie funktioniert eine Klospülung? Frieren Pinguine an den Füßen? Es gibt kaum eine Frage, auf die nicht wenigstens ein deutschsprachiges Kinderbuch antwortet.Wir bleiben eure Eltern! Auch wenn Mama und Papa sich trennen. Mit Titeln wie diesen sollen den Kindern Ängste und Unsicherheiten genommen werden. Ein Buch als Grundlage für eine vollkommen neue Familiensituation? Sollten nicht die Eltern diese Grundlage legen? Wird hier die Wirkung von Büchern nicht maßlos überschätzt? „Kinderbücher sollten durchaus lösungsorientierte Strategien anbieten“, meint Psychologe Karl Ludwig Holtz. „Allerdings sollte mit den Problemen wertschätzend umgegangen werden: Manchmal gibt es keine Lösung, und auch Kinder müssen lernen, bestehende Tatsachen, wie Trennung, Verlust oder Tod, hinzunehmen.“Mit Riesen auf ReisenDer Jungbrunnen Verlag aus Wien scheut sich nicht vor solch schweren Stoffen, die für viele Kinder inzwischen Lebensrealität sind. Doch der entscheidende Unterschied liegt nicht in der Wahl der Thematik, sondern in deren Umsetzung. Mein lieber Papa beschreibt in wenigen Sätzen die Vorstellung eines Jungen von seinem Vater, den er noch nie gesehen hat: Der Papa ist mit zwei Riesen auf Reise, kann jonglieren, tanzt mit Flamingos und backt Palatschinken. „Sobald die Bienen den Blütennektar der ganzen Welt gesammelt haben, kommt mein Papa heim“, heißt es im Buch. Jedes Kind, das ohne Vater aufwächst, hat eine unstillbare Sehnsucht nach diesem Unbekannten, der das Leben mitbestimmt, obwohl er nicht greifbar ist. Das Buch endet ohne Aufzeigen einer Lösungsmöglichkeit – einfach, indem es Mutter und Sohn beim Toben im Kinderzimmer zeigt. Alltag in Deutschland: Derzeit gibt es über eineinhalb Millionen Familien mit nur einem Elternteil.Alleinerziehend war auch die wohl bekannteste Kinderbuchautorin der Welt: Astrid Lindgren. Im Alter von 19 Jahren brachte sie heimlich ihren unehelichen Sohn zur Welt; in den ersten Lebensjahren lebte er in einer Pflegefamilie. Ihre verzweifelte Einfühlung in den kleinen, verlassenen Sohn sei für die Autorin eine genauso wichtige Schreibinspiration geworden wie die eigene glückliche Kindheit, meint Lindgren-Biografin Margareta Strömstedt. So entstanden neben den fröhlichen Familienepisoden rund um Michel, Madita und die Kinder aus Bullerbü auch traurige Erzählungen, wie die von den Brüdern Löwenherz oder über den neunjährigen Waisenjungen Bosse, der von seinen Pflegeeltern schlecht behandelt wird und der in Mio, mein Mio auf seinen Vater, den König des Landes der Ferne, trifft. Und Erich Kästner schrieb mit Das Doppelte Lottchen schon 1945 die wohl bekannteste Scheidungsgeschichte der Kinderliteratur.Bleibt die Frage, warum der Mut dieser beiden bekannten Autoren nicht stilbildend wurde. 47 Prozent aller gekauften Kinder- und Jugendbücher sind Geschenke zu einem bestimmten Anlass wie Geburtstag, Weihnachten oder Ostern. Weitere 25 Prozent sind „Mitbringsel“. Da geht mancher gern auf Nummer sicher und greift auf Bestseller und Altbewährtes zurück. Höchste Zeit, sich beim Bücherkauf mehr zu trauen!
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