Paradiesische Zeiten

Offenheit der Ränder In Hella Eckerts Roman "Hanomag" erinnert sich ein junges Mädchen an seine Eltern

Ich glaube", so stellt die Ich-Erzählerin Rita-Marilyn Heinkel in Hella Eckerts Roman Hanomag (zuerst 1998, jetzt wieder als Luchterhand Taschenbuch) fest, "daß meine Mutter meinen Vater liebte, und daß sie es nicht zugelassen hätte, daß er sie verließ." Vorletzte Worte eines sechzehn-siebzehnjährigen Mädchens zu einer Zeit Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik, da man noch unbefangen von Teenagern gesprochen, Marilyn Monroes Songs (Diamonds are a girl´s best friends) abgespielt und sich nach der großen weiten Welt - Eltern wie Kinder - gesehnt und mit den USA identifiziert hat.

Vater Heinkel, ein abgebrochener Akademiker, der seine Frau irgendwann an der Uni kennengelernt und davon überzeugt hat, dass nur in der Selbstständigkeit die wahre Freiheit und materieller Wohlstand liegen, fährt einen alten Hanomag, mit dem er Transportgeschäfte im Hafen erledigt. Die drei Heinkels hocken in einer schmalen Wohnung über der Bar von Dora, und ihr Leben spielt sich zwischen dem Hafen, der Wohnung und den Ämtern ab, in die die Mutter vergebens rennt, um die Konzession für ein größeres Fuhrunternehmen zu erhalten. Aber der Traum der Selbstständigkeit - die Idee, dass, wenn ein neuer Containerhafen von der Baubehörde genehmigt wird, dann paradiesische Zeiten anbrechen für die, die schnell genug geschaltet haben - zerplatzt. Eine Reise von unbekannter Dauer nach Marseille und ein numinoser Deal mit dem Hafenmeister bringen ebenso wenig das erhoffte Resultat wie die Bürgschaft jenes Karl Zerkowitz, mit dem sich die Mutter auf ein Techtelmechtel einlässt. Am Ende gibt der alte Hanomag noch vor dem Weg allen Rostes den Geist auf - in den Flammen, scheint es, zerstieben auch die Illusionen, und beide, Vater und Mutter, finden ernüchtert wieder zueinander. Jedenfalls, wenn man der erzählenden Tochter glauben möchte. Deren letzte Worte lauten nämlich: "Als dann das Weinen meiner Mutter allmählich weniger wurde, fing auch mein Vater wieder an, sich um sie zu kümmern. Er kümmerte sich um sie, es war ein anderes Sichkümmern, das nicht so vieler Worte bedurfte."

Eckerts Roman beschränkt sich konsequent auf die Perspektive des erlebenden und reflektierenden Mädchens. Strikt ist auch der Bewusstseinshorizont abgezirkelt. Das macht die Sprache einfach, lässt Grammatik und Syntax ebenso schlicht aussehen. Der ungeheure Gewinn, der dadurch jedoch erzielt wird, besteht in der Aussparung, denn überall klaffen an den Rändern des Erzählten Lücken, dunkle Löcher, deren Auffüllung oder Erhellung notwendige Arbeit des erwachsenen Lesers darstellt.

Genauso sinnlich-plastisch und damit konkret wie die enge Lebenswelt der Heinkels gezeichnet ist, geradeso unheimlich sind die Beziehungsstrukturen, die wir ja nur aus der Wahrnehmung und Beschreibung der Tochter kennen: Entsteht da wirklich eine neue Liebe zwischen den Eltern, gibt es diesen Neuanfang, oder haben sich die beiden nicht vielmehr bloß arrangiert - mithin ein Sieg des Alltags über die Leidenschaften? Und wie war das wirklich mit der Beziehung zwischen der Mutter und jenem Karl Zerkowitz? Vom italienischen Eisbudenbesitzer, der plötzlich ganz nett und spendabel zu Rita ist, gar nicht zu reden, schließlich auch nicht vom dubiosen Hafenmeister, der dem jungen Mädchen nicht nur den Hof macht?

Genau hier - an der Offenheit der Ränder, dort, wo hinter dem Erzählten psychische Abgründe winken, das Begehren und die Begehrlichkeiten dunkel raunend sich ankündigen - müssen die Aktivitäten des Lesers einsetzen, um mit Phantasie wie Reflexion die Erinnerungsspuren der jugendlichen Erzählerin zu entziffern und ihrer bloß scheinhaften Banalität an der Oberfläche zu überführen.

Hella Eckert: Hanomag. Roman. Luchterhand, München 2001, 189 S., 16,50 DM

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