Paradox

Neue Kopftuchdebatte Bundestagsabgeordnete rufen auf, den Schleier abzulegen

Seit zwei Wochen haben wir eine Neuauflage der "Kopftuchdebatte". Die Bundestagsabgeordneten Lale Akgün (SPD) und Ekin Deligöz (Grüne) haben sich gegen das Tragen von Kopftüchern ausgesprochen - auf etwas unterschiedliche Weise. Während Akgün sagte, dass moderne Islaminterpreten das Kopftuch nicht als zwingend ansehen, forderte Deligöz die muslimischen Frauen auf, endlich in Deutschland anzukommen und das Kopftuch abzulegen. Deligöz verwies auf das im Grundgesetz verankerte Recht der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Für ihren Aufruf bekam sie Todesdrohungen und erhielt Personenschutz.

Für einen strenggläubigen Muslim ist der Islam nicht nur eine Religion, sondern das Grundgesetz. Dies ist der maßgebliche Unterschied zum Christentum in Europa. Indem Ekin Deligöz den Frauen die deutsche Verfassung als Alternative anbietet, greift sie den Islam grundlegend an. Als Bundestagsabgeordnete ist sie Teil des gesetzgebenden Organs, das gibt ihrer Aufforderung politisches Gewicht. Die Fundamentalisten kämpfen, indem sie Deligöz bedrohen, gegen die Freiheit in der Demokratie. Es geht hierbei nicht um einen Streit "unter Türken" - wer Ekin Deligöz bedroht und beleidigt, muss rechtliche Konsequenzen spüren.

Lale Akgün, ebenfalls Bundestagsabgeordnete, wird scheinbar nicht bedroht. Warum? Frau Akgün empfiehlt eher eine "rheinische" Art des Islam im Sinne von: "Das Kopftuch ist für moderne islamische Theologen keine Vorschrift." Durch Muslime wie sie fühlen sich Islamisten offenbar nicht angegriffen, weil sie die Verschleierung im Koran mit Leichtigkeit belegen können - Personen wie Akgün stellen sie als "Irregeleitete" hin.

Muslimische Vereine wie der Islamrat oder sogar Milli Görüs haben sich beeilt, die Religionsfreiheit zu verteidigen. Doch was wäre, wenn eine Bundestagsabgeordnete einen von Männern nicht gern genannten Vers aus dem Koran zitiert und gefordert hätte, dass die Alten und Gebrechlichen, nicht mehr Gebärfähigen das Kopftuch, wie Mohammed es erlaubte, ablegen sollten? In Sure 24 Vers 60 steht: "Und für diejenigen Frauen, die alt geworden sind und nicht mehr darauf rechnen können zu heiraten, ist es keine Sünde, wenn sie ihre Kleider ablegen, soweit sie sich dabei nicht mit Schmuck herausputzen ..." Hätte der Islamrat sie etwa unterstützt? Kaum. Wenn der Islamrat den Konflikt abschwächen wollte, würde er diesen Vers selbst zitieren und die Muslime auffordern ihm zu folgen. Warum tut er es nicht?

Ekin Deligöz sagt, sie konnte früher über das Kopftuch-Thema offener und viel schärfer reden. Was hat sich geändert? Die Macht unter den Migranten hat sich verschoben. Gläubige Muslime, aber auch radikale Glaubensvertreter sind heute einflussreicher, obwohl sie nur eine kleine Minderheit darstellen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird übersehen, dass sich für die meisten Muslime das Muslim-Sein darauf beschränkt, als solche von außen gesehen zu werden. Aber in den Medien und in der Politik werden streng gläubige Muslime in den Mittelpunkt gerückt. Viele islamische Verbände blühen nicht zuletzt, weil sie von Saudis finanziert und von konvertierten Deutschen organisiert werden. Von allen Migrantenverbänden sind die islamischen die aktivsten.

Der deutsche Staat hat Jahrzehnte lang seinen Beitrag zur Stärkung des fundamentalistischen Islam geleistet. Der Umgang mit dem Fall Kaplan ist dafür bezeichnend. Vater und Sohn Kaplan bekamen viele Jahre in Deutschland Asyl, obwohl sie die radikale Islamistenvereinigung Kalifatstaat führten, die zum Glaubenskampf aufrief und das Ziel hatte, in der Türkei einen Islamstaat wie im Iran zu errichten. Deutsche Richter höhlten das deutsche Recht aus: Mädchen können aus religiösen Gründen Sportunterricht verweigern, wenn er nicht getrennt nach Geschlechtern angeboten wird.

Es ist ein deutsches Paradox. Einerseits wird der Islam als Gefahr, als der neue Feind des Westens hingestellt. Andererseits werden Türken durchgängig zu gläubigen Muslimen gemacht. Vor zehn Jahren hatten sie andere Eigenschaften: Türken galten als Analphabeten, anatolische Hammelbeine, Bauerntölpel, Machos, Frauenverächter. Nicht aber Muslim! Dadurch, dass der Islamrat und andere Vertreter der Minderheit unter der Minderheit Konferenzen mit dem Bundesinnenminister abhalten und Persönlichkeiten wie Seyran Ates und Necla Kelek zu Ausnahmen stilisiert werden, blendet man die vielen modernen, engagierten Migranten aus der Türkei aus und schwächt ihren gesellschaftlichen Einfluss.


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