Passanten

Die Frau legt nur zwei Dinge auf das Band der Supermarktkasse: einen Strauß rote Rosen und eine große Packung Tempo-Taschentücher. Sind das die ...

Die Frau legt nur zwei Dinge auf das Band der Supermarktkasse: einen Strauß rote Rosen und eine große Packung Tempo-Taschentücher. Sind das die Requisiten für eine dramatische Szene, zum Beispiel für eine Liebeserklärung mit ungewissem Ausgang oder für einen letzten Versuch, die Beziehung doch noch zu retten, ahnend, dass es dafür längst zu spät ist? Vielleicht hat sie aber einfach bloß Heuschnupfen. Und die Blumen sind für ihre vereinsamte Nachbarin aus dem Hinterhaus.

Draußen am U-Bahnhof wartet eine Mutter mit Kinderwagen vor dem Aufzug. In den Anblick ihres Kleinen vertieft, merkt sie nicht, dass die Kabine zwar da ist, aber die Türen blockiert sind.

Eine Rentnerin verkündet, das sei schon seit drei Tagen so. Sie wittert eine Verschwörung der Verkehrsbetriebe und sämtlicher hochmögender Leute in der Stadt. Sie verpasst dem Lift noch eins mit dem Gehstock, dann entschwindet sie auf der Rolltreppe Richtung Bahnsteig.

Auf der S-Bahn-Überführung stehen wohl an die fünfzehn Leute, fast alles Männer, am Geländer und schauen konzentriert hinunter. Hoffentlich kein Unfall, denke ich, oder ein Selbstmörder. Zum Glück sind dort nur orange gekleidete Arbeiter zu sehen, die neue Gleise verlegen. Ich bin auch darüber erleichtert, dass die Zahl der Schaffer die der Gaffer übersteigt. Es gibt noch Hoffnung für die Stadt!

Aber kaum für das Fahrrad, auf dem mir dieser Punk entgegen kommt. Lange bevor ich ihn gesehen habe, war er zu hören. Die blanken Felgen schrammen über den Asphalt - schlimmer als Fingernägel auf der Schultafel, wie ein Bohrer, der sich langsam durch den Gehörgang frisst. Wir kreuzen kurz die Blicke, ich habe das Gefühl, er wartet nur darauf, dass ich ihm dumm komme. Oder hat er sich erfolgreich in Trance geradelt und nimmt mich gar nicht wahr?

Ich sollte ihm sagen, dass es T-Shirts gibt, wie sie mein Nachbar, eigentlich ein absolut freundlicher Mensch, manchmal trägt. Rage steht dann auf seiner Brust. Nur das, nicht mal mit Ausrufungszeichen dahinter. Eine klare, nüchterne Ansage. Käme vielleicht auch für die Rentnerin vom U-Bahnhof in Betracht. Oder sogar für die Frau aus dem Supermarkt, falls sie doch verlassen worden ist. Oder eben Heuschnupfen hat.


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